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Kolonisation der Biologie

»Die moderne Biologie ist nicht das Werk von Biologen«, schreibt Ernst Peter Fischer in seinem Vorwort zu Erwin Schrödingers Buch What is life?. Diese Frage stellte Schrödinger, selbst von Hause aus Physiker, in den 40er Jahren seinem Auditorium – um sie anschließend, allein mit den Methoden seiner Disziplin, zu beantworten. Sein Vortrag gilt als Meilenstein in der physikalischen Aufrüstung der Biologie.

Die Beschaulichkeit von Züchtungsversuchen, wie sie der Mönch und Botaniker Gregor Mendel in seinem Klostergärtchen anstellte, waren im 20. Jahrhundert passé. Bereits in den 20er Jahren ging es nicht mehr um reine Beobachtung. Es waren vor allem Physiker, die im Verbund mit modernen Genetikern Vererbungsforschung betrieben, indem sie an Drosophila-Fliegen experimentierten. Sie setzten die Tiere Röntgen- und Radiumstrahlen aus, um Veränderungen in ihrem Erbgut zu erzwingen. Das Experiment gelang 1927 im Labor von Hermann J. Muller. Die künstlich ausgelöste Mutation galt als Beweis, dass eine stoffliche, molekulare Grundlage der Vererbung existiere. Damit war die Biologie auf ein physikalisches Fundament gestellt, ihre Kolonisation eingeleitet.




UTE BERTRAND, Journalistin und BioSkoplerin

Die Macht der Modellbauer

  • Wie und warum die Gene in unsere Köpfe kommen

aus: BIOSKOP Nr. 26, Juni 2004, Seiten 14+15

»Wir leben in einer Zeit«, schwärmte Professor Sander vom Molekularbiologischen Laboratorium in Heidelberg, »in der ein kulturgeschichtlicher Quantensprung ausgelöst wird. Vor uns war nur grob der Phänotyp eines Organismus bekannt. Nach uns werden alle genetischen Informationen bekannt sein. Wir werden hingehen und einem Menschen vier CDs in die Hand drücken und sagen: Hier ist Ihr Genom.«

Das war im Jahre 1993, auf einer Tagung der Gesellschaft für Informatik zum Thema »Informatik in den Biowissenschaften«. Ich weiß nicht, wie oft ich dieses oder ähnliche Bilder – vor und nach Sander – schon präsentiert bekommen habe; stets serviert mit einer für Naturwissenschaftler ungewöhnlich üppigen Portion Pathos. Dass wir das erleben dürfen! Ein Mensch auf vier CDs!

Das Publikum schweigt ergriffen, und leider kann das kleine Mädchen nicht überall sein, das ruft: »Aber der Kaiser hat doch gar keine neuen Kleider. Der Kaiser ist nackt.« Der Professor vom Laboratorium dagegen hat viele Kollegen und einige Kolleginnen, die zu sehen glauben, was er zu sehen glaubt; die die gleichen Bilder im Kopf haben und die ihr Geld wie er damit verdienen, harte Fakten auf Folien zu präsentieren. Fakten über etwas, was keiner von ihnen je mit eigenen Augen gesehen hat und was doch manipulierbar, herstellbar und auf CDs zu speichern sein soll: genetische Informationen.

Es würde den Molekularbiologen die Sprache verschlagen, wenn sie auf den Informationsbegriff verzichten müssten.

Naturwissenschaft, ansonsten so auf Exaktheit ihrer Definitionen bedacht, setzt auf Bilder, auf Metaphern, die alle einen Ursprung haben: Sie stammen aus der Welt der Informationsverarbeitung. Es würde allen MolekularbiologInnen auf der Stelle die Sprache verschlagen, wenn sie auf den Informationsbegriff verzichten müssten. Ob es der genetische Code ist, der abgelesen, umgeschrieben, kopiert und als geistiges Eigentum patentiert werden kann; ob es die Botenstoffe sind, die Nachrichten überbringen und Befehle ausführen oder die Basen-Buchstaben, aus denen sich der noch unverstandene Text des Genoms zusammensetzen soll – immer werden Prinzipien der Informationsverarbeitung in Menschen hineingedacht.

Einst waren es Orgelpfeifen und Uhrwerke, später dann die Kraftkolosse der Dampfmaschinen-Zeit, die insbesondere die Männer der Wissenschaft faszinierten und deren Funktionsweisen sie im eigenen Körper wieder zu entdecken glaubten. Heute heißen die aktuellen »Leitmaschinen« Computer. Ein neues Leit- und Leibbild hat sich breitgemacht in Biowissenschaften und Medizin: das Bild vom Menschen als »transklassische Maschine«, als informationsverarbeitendes System – gesteuert von einem genetischen Code, ausgestattet mit Hormon, Immun- und Nervensystem.

Am mächtigsten sind Modelle, wenn viele vergessen, dass es sich um nichts als Modelle handelt.

Alle diese Systeme entziehen sich den menschlichen Sinnen. Sie sind nicht zu sehen, nicht zu hören, nicht zu schmecken, nicht zu fühlen. Die Wörter über sie müssen wir, um in bestimmten Kreisen mitreden zu können, lernen wie Vokabeln aus einer anderen Welt. Gerade wenn Wissenschaft und Technik in Dimensionen vorrücken, die sinnlich nicht wahrnehmbar sind, entfalten Modelle ihre Macht. Modelle, die man allenfalls auf ihre innere Widerspruchsfähigkeit überprüfen kann, jedoch nicht auf ihren Realitätsbezug. Man kann an sie glauben, etwa weil man an diejenigen glaubt, die sie in die Welt gesetzt haben oder nicht. Am mächtigsten sind Modelle, wenn viele vergessen, dass es sich um nichts als Modelle handelt. Und genau das zu erreichen, ist das Ziel vieler ExpertInnen.

Den Code knacken, den Text lesen können – danach streben die MolekularbiologInnen. Die »Entschlüsselung des menschlichen Genoms« ist zum Informatik-Problem geworden. Die Informations-Metaphorik ist in der Molekularbiologie konkurrenzlos. Auch in die Alltagssprache ist sie längst eingesickert. Andere Modelle, Vererbung zu beschreiben, sind bedeutungslos. Warum? Wem nutzt die Interpretation der Gene als Informationen?

Die Informationsmetaphern werden um so mächtiger, je weniger die Substanz und je mehr Aktivitäten der Gene im Vordergrund stehen.

Sicherlich ist es kein Zufall, dass erst im Zeitalter der Computer die Molekularbiologie von Informationen spricht, während dem Mönch Gregor Mendel noch ganz andere Bilder in den Sinn kamen, als er seine Kreuzungsversuche mit Gartenerbsen und Bohnen auswertete. Es liegt aber auch im Informationsbegriff selbst begründet, warum er sich so gut eignet. Problemlos lässt sich die informationelle Metaphorik mit mechanistischen Vorstellungen kombinieren. Widersprüche zu den Bildern von der DNS als Strickleiter oder Wendeltreppe und den Basen als Bausteinen tauchen nicht auf, nur die Akzente verschieben sich. Die Informationsmetaphern werden um so mächtiger, je weniger die Substanz und je mehr Aktivitäten der Gene im Vordergrund stehen.

Planmäßiges, gezieltes Eingreifen erleichterte schon das Bausteine-Modell. Nur ein Umprogrammieren, eine Textkorrektur ist jetzt noch nötig, um das logisch-abstrakte System einer Zelle zu verändern. An Schmerz und blutige Operationen ist nicht zu denken. Leben lebt nicht. Körper- und materielos funktioniert es nach den Regeln der Logik, Abstraktion und Effizienz – ganz so, als hätten es die Forscher erfunden.

Das Plastikwort »Information« bietet sich an, da es alles- und nichtssagend ist: exakt genug, dass Naturwissenschaftler mit ihm arbeiten können, ungenau genug, um zu schlucken, was gänzlich unverstanden ist. Längst wankt das Dogma in der Biologie, alle Informationen flössen von der DNS über die RNS zum Zellplasma. Das einfache Bild wurde über Bord geworfen, dass ein Gen der Abschnitt auf dem Erbfaden ist, der für ein Merkmal codiert. Heute ist die Rede davon, dass in der Regel viele Gene an unterschiedlichen Genorten zusammenwirken, dass es zahlreiche ungeklärte Wechselwirkungen zwischen Genen und Eiweißen gibt. Das Gen als handlungsfähige, autonome, kausal verursachende Instanz ist gekippt, ohne dass sich an der Informationsmetaphorik etwas ändern musste. Nun heißen die Erbanlagen eben seltener genetisches Programm; man interpretiert sie als paralleles Netzwerk. Ganzheitlichkeit wird reklamiert, indem die Spaltung von Körper und Geist durch den Informationsbegriff scheinbar aufgehoben wird.

Genomforschung und Soziobiologie verkünden weiterhin ihr biologistisches Credo, das Schicksal eines Menschen ließe sich an seinen genetischen Daten ablesen.

Doch was ist gewonnen, wenn (methodische) Reduktionisten »Geist« oder »Seele« durch einen berechenbaren Informationsbegriff ersetzen? Fragen danach, wer die »Lebensprogramme« geschrieben hat, wie die »Ursprungsinformationen« entstanden sind, welcher »Grammatik« sie folgen und welchen Sinn sie haben, ist man damit keinen Schritt näher gekommen.

Die Möchtegern-»Autoren« hat das bisher wenig irritiert. Genomforschung und Soziobiologie verkünden weiterhin ihr biologistisches Credo, das Schicksal eines Menschen ließe sich an seinen genetischen Daten ablesen: »Geben Sie mir Ihre vier CDs, und ich weiß wer Sie waren, wer Sie sind und wer Sie sein werden.« Die reduktionistische Gleichung lautet. Gene = Informationen = Schicksal.

Mittels Gentests steigt die Menge sensibler Daten, die über einen Menschen verfügbar sind, beträchtlich. Die Daten sind – allerdings nur für technisch gerüstete ExpertInnen – leicht zugänglich. Der/die einzelne kann kaum kontrollieren, wann ihm oder ihr zu welchem Zweck Körpersubstanzen weggenommen werden, um welche Genstrukturen zu untersuchen. Auf die Daten strahlt die Glaubwürdigkeit ab, die die Naturwissenschaften noch immer genießen, so als handele es sich um objektiv feststellbare Tatsachen und nicht um statistisch gewonnene Annahmen, Prognosen und Werturteile anderer. Vom Laien sind solche Zuschreibungen nicht zu widerlegen. Möglicherweise bekommt ein Mensch die Krankheit nie zu spüren, die ihm vorausgesagt wurde; nichtsdestotrotz kann die Diagnose sein Leben verändern.

Datenmodelle werden zum Spiegel eines angeborenen Schicksals, das sich möglicherweise gentechnisch manipulieren lässt.

Daten können direkt an der Quelle, im Körper eines Menschen erhoben werden, ohne mit ihm zu reden. Eine Zelle genügt. Und vorgeblich lügen die Gene nicht, sondern liefern Fakten darüber, wer krank wird, anfällig ist für Alkoholismus, Homosexualität oder Kriminalität. Wer über genetische Daten verfügen kann, erhält Macht, Menschen zu etikettieren und ihr künftiges Leben zu beeinflussen, sei es, dass ein Mensch wegen einer negativen Prognose gar nicht erst geboren wird oder man ihn aufgrund seiner genetischen Konstitution am Arbeitsplatz, bei Versicherungen oder in der Schule diskriminiert. Datenmodelle werden zum Spiegel eines angeborenen Schicksals, das sich möglicherweise gentechnisch manipulieren lässt. Gleichwohl ist der Datengehalt nicht fix, sondern unterliegt der Definition der ExpertInnen, die ihn dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik anpassen. Für das Individuum wird es schwieriger, sich der Klassifizierung zu widersetzen und das Bild zu bestimmen, das andere sich von ihm oder ihr machen.

Das Modell des Menschen existiert also, bevor der Modellierte selbst existiert. Darin liegt die Gefahr, dass sich nicht das Modell nach dem Menschen und seiner Geschichte richten könnte, sondern der Mensch nach dem Modell. Er hat die ihm gemachte Prophezeihung zu erfüllen – oder sich für non-konformes Verhalten zu rechtfertigen.

© Ute Bertrand, 2004
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