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ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin

Von der Vermessung des Schädels zur Analyse der DNA

  • Eine kleine Geschichte der biometrischen Erfassung

aus: analyse & kritik Nr. 460, 22. März 2002

Die biometrische Vermessung und Erfassung hat eine Jahrhunderte währende Geschichte. Der Anthropometrie und der Fingerabdrucktechnik folgte die DNA-Analyse und das auch damals nicht nur zur Täteridentifikation, sondern zur Konstruktion von vermeintlichen Täterprofilen, zur Ableitung des Typus »Krimineller«.

Anthropometrie, Fingerabdrucktechnik und kriminelle Anthropologie waren auch im 19. Jahrhundert auf den »kriminellen«, den »abweichenden«, den »fremden« Körper fokussiert. Techniken der nachträglichen Identifizierung von StraftäterInnen waren von Beginn an verbunden mit der Suche nach potenziellen Täterprofilen. Verdächtig – und zwar durch biologische, in den Körper hineingelesene Merkmale und statistisch erzeugte, gruppenbezogene Verhaltensmuster – wurden die Kolonisierten, die Immigranten, die Farbigen, die Armen, die Wandernden, die als degeneriert Klassifizierten, die Prostituierten.

In der sich industrialisierenden und sozial mobilisierten Gesellschaft wurde die Identität prekär. Enorm viele Menschen verließen ihren sozialen Kontext, wanderten aus Dörfern in anonyme Städte und andere Länder. Das alte System der kollektiven Erinnerung, der sichtbaren Standes- und Regionenzugehörigkeiten – über Dialekt, Kleidung, Gesten – kollabierte. Mobilität wurde zum Verdachtsmoment und zum Verbrechen selbst, in der Kategorie des »kriminellen Vagabundierens«. Großbritannien erlebte beispielsweise eine Serie von Paniken über innergesellschaftliche Wanderungsbewegungen. Gleichzeitig entstanden moderne, bürokratische Regierungsinstitutionen, die Informationen über die gewöhnliche Leute zu sammeln und aufzubewahren trachteten. Erste, recht vage Registrierungen von Verhafteten kamen auf, die wissenschaftlich standardisiert werden sollten.

Gerade die statistischen und biologistischen Theorien vom »Wiederholungstäter« stimulierte die Suche nach Identifikationstechniken.

Die ausufernde Bevölkerungsstatistik im 19. Jahrhundert ließ Kriminalität zu einem sozialen Phänomen werden, zu einer epidemieartigen Krankheit, die den »sozialen Körper« betraf. Damit verbunden setzte sich die Vorstellung vom nicht besserungsfähigen Wiederholungstäter durch, für den ein zuverlässiges Strafregister erfunden werden musste. Die Figur des »habituellen Verbrechers« entstand, der biologisch vom Normalbürger verschieden war. Und es waren die Pioniere der Statistik, die Verbrechen wie andere soziale Phänomene behandelten, wie Geburt, Tod oder Selbstmord. Der Gründer der Sozialwissenschaften Adolphe Quetelet entwarf innerhalb seiner »sozialen Physik« die »Theorie des Durchschnittsmenschen«, an dem Abweichungen aller Art sichtbar wurden. Er machte mit seinen Berechnungen die Regelhaftigkeit des Verbrechens plausibel. Dieser Typus des oder der »AbweichlerIn« wurde auch zum Objekt wissenschaftlichen Wissens, explizit der Anthropologie. Der Kriminalanthropologe Cesare Lombroso trug eine Art Zoologie des Verbrechens bei und erklärte 1/3 der Taten als biologisch bedingt. Der Leipziger Professor Johann Christian Heinroth beschäftigte sich mit der »Theorie des Bösen« in der Kriminal-Psychologie. Carl Gustav Carus oder Paul Broca vermaßen Schädel und Hirnvolumen, um dem Phänomen der Verhaltensabweichung auf die Spur zu kommen.

Gerade die statistischen und biologistischen Theorien vom »Wiederholungstäter« stimulierte die Suche nach Identifikationstechniken. Wie sollte man sonst Wiederholungstäter erkennen und einem gesonderten, nicht auf Resozialisierung sondern langfristigen Ausschluss orientierten Strafsystems zuordnen? Allgemeine Beunruhigung potenzierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, weil die Praxis der Deportation in Strafkolonien beschränkt werden musste. Der Feind blieb im eigenen Gesellschaftskörper.

Sie gruppierten verschiedene Gesichter einer »Verbrecherkategorie« auf eine fotografische Platte, um aus ihren Gesichtern »kriminelle Type« zu »erkennen«.

Die Fotografie als neue Technologie versprach Lösungen. Thomas Byrnes veröffentlichte unter dem Begriff des »professionellen Kriminellen« ein legendäres Fotoalbum. Fälscher und Schwindler, sozusagen Vergehen rund um die prekär gewordene Identität, wurden abgebildet. Francis Galton, der Erfinder der Eugenik, und andere entwarfen eine Technik der »composity photography«. Sie gruppierten verschiedene Gesichter einer »Verbrecherkategorie« auf eine fotografische Platte, um aus ihren Gesichtern »kriminelle Typen« zu »erkennen«: den typischen Fälscher, Bankräuber, Hoteldieb. Das Gesicht der Kriminalität selbst sollte sichtbar werden. Auch eine Praxis der präventiven Verhaftung solcher »Typen« gab es. Und wer war das? In den Vereinigten Staaten des späten 19. Jahrhunderts Personen mit ost- und südeuropäischen Aussehen, ImmigrantInnen, Juden und Jüdinnen, ZigeunerInnen, Menschen aus der Unterklasse. Kriminalität wurde in die Körper hineingelesen – und was man dort »fand« waren die immer gleichen, sozialen Ausgrenzungsmuster.

Doch das Problem die Identifizierung Einzelner war damit in keiner Weise gelöst. Im späten 19. Jahrhundert entstanden zu diesem Zweck und in unterschiedlichen sozialen und politischen Kontexten zwei neue Technologien: die Anthropometrie und der Fingerabdruck.

Bertillon reduzierte den Körper auf Zahlen und Klassifikationsmerkmale. Heraus kam eine aufwendige Methode, die individuelle Täter identifizierte und kollektive Tätertypen kreierte.

Erstere wurde in den europäischen Städten, zweitere in den Kolonien und an den Grenzen der westlichen Imperien entwickelt. Berühmt wurde vor allem der französische Anthropologe und Kriminalist Alphonse Bertillon. Er fotografierte Verdächtige und Täter unter standardisierten Bedingungen. Er vermaß Länge und Breite des Kopfes, des Fußes, der Finger, des Vorderarms, registrierte Größe und Farbe der Augen, und ordnete sie nach den Regeln der Statistik in Gruppen. Bertillon war Wissenschaftler. Er wollte eine präzise wissenschaftliche Sprache für die Beschreibung der Körpermerkmale entwickeln, ein »morphologisches Vokabular«. Abweichungen wurden dann in Symbole übersetzt und der, zunächst sprachlich beschriebene Körper, auf eine Formel gebracht und archiviert. Allein in Paris gab es vor der sogenannten Bertillonage 75.000 rein alphabethische Registrierungen, die aber keinen wirklichen Wert für die Identifizierung hatten. Bertillon klassifizierte diese neu, nach seinen Kategorien und auf der Basis statistischer Häufigkeiten innerhalb der Population der Pariser Gefangenen. Bertillon reduzierte den Körper auf Zahlen und Klassifikationsmerkmale. Heraus kam eine aufwendige Methode, die individuelle Täter identifizierte und kollektive Tätertypen kreierte.

Mehr noch. Seine »gesprochenen Portraits«, verfasst in einer universellen Sprache, erlaubte auch die Übermittlung der Beschreibungen per Telegraf. Der »kriminelle Körper« wurde so auch ein »elektrisch übertragbarer Körper«, über Grenzen und Regionen hinweg. Anders als die Fotografie, konservierten seine Kategorien den kriminellen Körper über die Zeit hinweg. Fotos veralteten, das »gesprochene Portrait« nicht. So war es möglich, die kriminellen Körper zu verbinden (in klassifizierbare Gruppen), zu verstetigen über die Zeit (von einer Verhaftung zur anderen) und über den Raum (von einem Ort zum anderen). Die Identität wurde stabil gehalten – und das Individuum konnte dem versprachlichten Körper nicht mehr entfliehen. Die heutige Reduktion menschlicher Identität auf die DNA verlagert dieses Vorgehen unter die Haut und schreibt den Körper um, in einen Code.

Die Euphorie der Ermittlungsbehörden stieg – und so auch die Bedrohungsszenarien.

Bertillons System »funktionierte«. Die Zahl der aufgefundenen Wiederholungstäter stieg. Die zunächst reine Identifizierungstechnik wurde zur Normalisierungstechnik im Strafsystem. Der erkennbare Wiederholungstäter wurde anders behandelt als der Gelegenheitsverbrecher. Die Hoffnung der Reformer auf individualisierte Behandlungen, sozusagen Heilung der Resozialisierbaren nach dem Modell der medizinischen Therapie, aber schlug fehl. Vielmehr schuf die Anthropometrie Abweichungstypen: Idioten, Epileptiker, Degenerierte, defekte Delinquente, geborene Kriminelle und Anarchisten. Der erwähnte Cesare Lombroso beispielsweise entwickelte eine organbezogene Symptomatik, die zwischen diesen Typen Verbindungen herstellte. Seine Daten zur »Diagnose der Kriminalität« bezog er aus dem System zur Identifizierung einzelner Täter.

Die Euphorie der Ermittlungsbehörden stieg – und die Bedrohungsszenarien. Angeheizt durch die geschürte Furcht vor politischem Radikalismus und anarchistischen Bewegungen diffundierte das Bertillon-System in alle Welt. Das allerdings schadete ihr. Die komplizierte und standardisierte Sprache Bertillons verkam zu einem ineffektiven Patchwork.

Der eugenische – und kriminalbiologische Entstehungszusammenhang des Fingerabdrucks ist längst vergessen; er gilt heute als rein wertfreie Identifizierungstechnik.

Es waren vor allem MigrantInnen und die »dunkelhäutigen Kolonialsubjekte«, die der zweiten biometrischen Erkennungsmethode zum Aufstieg verhalfen. Ihre Erscheinung war mit europäischen Augen schlecht zu unterscheiden. Das System Bertillons versagte. Die neue Fingerabdrucktechnologie fand in Indien ihren Anfang und zwar vor allem im zivilen Bereich, beispielsweise für die Verteilung von Pensionen an die Bevölkerung. Aber auch diese Methode schuf (oder bestätigte) »gefährliche Kollektive« – hier die sogenannten kriminellen Kasten. Ganz nach dem kolonialen Muster, wurden wandernde Gruppen, die nicht dem Ideal der sesshaften Landwirtschaft und Lohnarbeit entsprachen, mit dem Criminal Tribes Act von 1871 erfasst und kontrolliert. In diesem Kontext erfanden Henry Fauld und Francis Galton im Auftrag der englischen Kolonialregierung in Indien den Fingerabdruck. Für Galton waren Fingerabdrücke sichtbares Zeichen der Vererbung. Deshalb ordnete er hunderte solcher »Zeichen« nach prozentualer Verteilung bestimmter Merkmale, wie Bögen, Schlingen und Wirbel. Er übersetzte den individuellen Abdruck in eine Buchstabenfolge, um ihn typisieren und registrieren zu können. Sein Alphabet hatte zehn Buchstaben – wieder eine kaum zu übersehende Parallele zur DNA, die in ein sprachliches Image aus vier Buchstaben übersetzt wird, um Individuen erkennen und nach sichtbaren Mustern in Ethnien oder Krankengruppen klassifizieren zu können.

Der eugenische – und kriminalbiologische Entstehungszusammenhang des Fingerabdrucks ist längst vergessen; er gilt heute als rein wertfreie Identifizierungstechnik. Und sein molekularer Nachfolger, so wird betont, transportiere ebenfalls keine genetischen Informationen über persönliche Merkmale. Aber bevölkerungsspezifische Berechnungen waren unabdingbar, um im unsichtbaren Gebiet des Zellkerns so genannte »Marker« zu bestimmen, die es überhaupt erst ermöglichen, Einzelne zu identifizieren. Die ethnische Herkunft, die Gesichtsform oder andere äußere Merkmale in diesen modernen Fingerabdruck hinein zu interpretieren, das gilt als ein Forschungsziel der forensischen (gerichtlichen) Genetik. Der Weg zum identifizierten Einzelwesen führt, wie bei allen biometrischen Verfahren, über (Teil-)Populationen. Das vermessene Individuum ist immer singulär und kollektiv zugleich.

Von den Kolonialverwaltungen aus begann im 20. Jahrhundert der Siegeszug in den europäischen Polizeibehörden, Grenzstationen und Einwanderungsbüros.

Die neue Technik des Fingerabdrucks wurde weiterentwickelt. Nach ersten Anfangsschwierigkeiten (die Polizei in Indien konnte keine Dezimalrechnung) weitete sie sich auf verschiedenste Ebenen des Regierens aus, auch um das Anwerben unerwünschter Arbeiter zu verhindern. Von den Kolonialverwaltungen aus begann im 20. Jahrhundert der Siegeszug in den europäischen Polizeibehörden, Grenzstationen und Einwanderungsbüros. Importiert wurde dabei nicht nur die Fingerabdrucktechnik, sondern auch die Idee vom »indischen Kriminellen«. Die vererbungsbedingte Konzeption von Kriminalität wurde erneut bestärkt.

Anfang des 20. Jahrhunderts, bestärkt durch die Hochphase der Genetik, blühten die vergleichenden Studien: Westafrikanische Stämmen und Primaten, die norwegische Bevölkerung und die afrikanische. Das Material für die Untersuchungen stammte zum Teil aus den zu Identifikationszwecken gesammelten Fingerabdrücken. Ziel war es, bestimmte Fingerabdruckmuster als sichtbares Zeichen der Höherentwicklung zu beweisen. Oder: Der Berliner Prof. Heinrich Poll versprach 1922 stolz, »dass die Zukunft aller Personen in ihren Fingerspitzen geschrieben steht. Und dass die Lebensversicherungsgesellschaften bald aus dem Fingerabdruck die Karriere ihrer Versicherten ablesen könnten.« Er gründete dies auf seine Untersuchung der Fingerspitzen von 6.000 Individuen.

Anders als die Fotografie wurde der Fingerabdruck als Dokument, als Sprache des Körpers selbst, begriffen.

Der Traum vom »kriminellen« oder »degenerierten« Fingerabdruck starb nie ganz aus. Als zur biologischen Erklärung kriminellen Verhaltens das xyy-Syndrom kreiert wurde (was HumangenetikerInnen im Deutschland der 1990er Jahre veranlasste den Schwangerschaftsabbruch zu empfehlen), korrelierten WissenschaftlerInnen kriminelle Fingerabdruckmuster mit diesem »Syndrom«.

Für die rückwirkende Identifizierung von Straftätern wurde der Fingerabdruck zunächst gar nicht genutzt, sondern eher um Deserteure zu entdecken oder die Rentenvergabe zu kontrollieren oder um Prostituierte zu registrieren. Die Methode war ideal für Frauen, denn sie hielt Distanz zu ihren Körpern. An dieser Gruppe konnte eine neue Methode etabliert werden, bevor sie gesellschaftsfähig wurde. Die Perspektive: Gelegenheitsprostituierte sollten von Professionellen unterschieden werden. Später wurde der Fingerabdruck dann auch auf »Kleinkriminalität«, also auch die Gruppe der Männer ausgeweitet. Bis 1915 waren schon 80.000 Abdrücke gesammelt worden. In diesem Kontext, zur Kontrolle besonders der städtischen Bevölkerung, fand der Siegeszug der neuen Methode statt. Sie galt als modern, als gänzlich unabhängig von einem menschlichen Beobachter, reproduzierbar und schnell. Anders als die Fotografie, die ein visuelles Image vom individuellen Körper bot, anders als die Bertillonage, die seine sprachlich-numerische Übersetzung lieferte, wurde der Fingerabdruck als Dokument, als Sprache des Körpers selbst, begriffen.

Je mehr Fingerabdrücke verfügbar waren, je schwieriger wurde der systematische Zugang.

Das Versprechen, die panoptische Macht des Staates zu vergrößern schuf neue – auch nationale und internationale – Institutionen. Als im September 1920 bei einem Bombenanschlag in der Wall Street 39 Menschen getötet wurden, warnte die Nationale Polizei-Konferenz vor einer Invasion der Radikalen, Anarchisten und Kriminellen, die allesamt an Waffen ausgebildet worden wären. Gefordert wurde darauf hin, bei der Einreise an Häfen oder an den Staatsgrenzen, Fingerabdrücke zu nehmen. Die Information über »Kriminelle« oder »Radikale« sollte so mobil werden, wie die »Verdächtigen« selbst. Und verdächtig war eigentlich jeder. Der Leiter des in den 20er Jahren neu gegründeten FBI wollte Fingerabdrücke von allen BürgerInnen sammeln, als Schlüssel für individualisierte Überwachung. Man begann die Abdrücke von Regierungsbediensteten zu registrieren, 1939 von allen Arbeitern der Work Progress Administration, 1940 von allen Immigranten. Man propagierte den »freiwilligen Fingerabdruck«. In Folge eines national beachteten Kidnapping-Falls (das sogenannte Lindbergh Baby 1932) sollten alle, einschließlich der Kinder, ihren Abdruck zum eigenen Schutz abliefern. Buttons mit »I have been fingerprinted« oder »100% fingerprinted« kursierten. Mehr als 1,4 Millionen Fingerabdrücke konnten registriert werden. Ein Gesetzesvorhaben aus dem Jahr 1943, mit dem Fingerabdrücke in Pässen erfasst werden sollten, scheiterte allerdings am politischen Widerstand von Teilen der us-amerikanischen Bevölkerung.

Je mehr Fingerabdrücke verfügbar waren, je schwieriger wurde der systematische Zugang. Schon in den 1930-er Jahren wurden vom FBI IBM-Sortierer genutzt, um Fingerabdruck-Klassifikationen zu erstellen. In den 80er Jahren wurden dann jene automatischen Fingerabdrucksysteme für die Ermittlungsinstanzen eingeführt, die nun auch wieder zum normalen, zivilen Behördenalltag werden sollen. Die genetische Identifikationstechnik nahm zumindest von der medial vermittelten Außenseite her, ihren Anfang bei den exualverbrechens-Aufklärungen. Und da Verbrechen wie diese heute als »die« Bedrohung schlechthin angesehen werden, ist eine Identifikation, die hier Aufklärung verspricht, monopolbrechend.

Das genetische Zeitalter

Wieder war es ein Genetiker, Dr. Alec Jeffrey von der Uni Leicester, der das Verfahren entwickelt. Ähnlich wie bei Francis Galton ist diese Identifikation wieder eine Art Abfallprodukt genetischer Studien. Die These: Es gibt eine Besonderheit im viel zitierten genetischen Code, und zwar auch in jenen Abschnitten, die lange Zeit einfach als »junk-DNA« bezeichnet wurden, weil dort keine Auskünfte über Krankheiten, Risiken oder Körpermerkmale ermittelt werden könnten. Diese Abschnitte würden je nach Individuum und Bevölkerungsgruppe unterschiedlich oft wiederholt. Bei einem Individuum könnten sie 30-mal, bei einem anderen 100-mal hintereinander gereiht sein. 1984 entwarf Jeffrey seinen ersten DNA-Fingerprint und suchte nach Anwendungsmöglichkeiten, die er zunächst bei der Immigrationskontrolle vermutete. So könnte das Kindernachzugsrecht (über einen genetischen Verwandtschaftsnachweis) überwacht werden. Spektakuläre Sexualverbrechen brachten dann aber den Durchbruch. Männer aus der Umgebung des Tatorts wurden zur Blut- oder Speichelprobe »gebeten«, eine Praxis, die in der Bundesrepublik seit Mitte der 90er Jahre üblich wird. Es folgte der Aufbau genetischer Datenbanken. Zuerst waren 80% der Straftaten, die solche Registrierungen ermöglichten Sexualverbrechen. Wieder gab es Koordinierungsstellen wie das BKA oder das FBI, die systematisch sammelten. Die Ausweitungspraxis, die wir schon beim Fingerabdruck beobachtet haben, greift auch in diesem neuen technologischen Feld. Straftaten von »erheblicher Schwere«, mittlerweile aber auch »Exhibitionismus« als Vorstufe zur Gewalttat, werden zum Anlass genommen, um genetische Fingerabdrücke zu sammeln. In den Vereinigten Staaten war 1997 eine Million Proben registriert, die Ausweitung auf jeden Gefangenen ist Zielperspektive. England ist mit seinen 500.000 Proben absoluter Spitzenreiter. Aufbewahrt wird meist nicht die Blut- oder Speichelprobe, sondern das genetische Profil.

Zielperspektive: Phantombilder von Straftatverdächtigen mittels Genanalyse

In Deutschland hat sich besonders der Münsteraner Rechtsmediziner Prof. Brinckmann hervor getan. Auf verschiedensten Ebenen versucht sein rechtsmedizinisches Institut, bessere Bedingungen für Forschung und Anwendung zu etablieren. Gerne möchte man nicht die Daten, sondern die einmal sicher gestellten Proben aus dem forensischen oder ausländerrechtlichen Kontext konservieren. Das würde weitere Forschungen ermöglichen – zum Beispiel der forensischen Genetik. Zielperspektive: Phantombilder von Straftatverdächtigen mittels Genanalyse. Schon bald, so das Versprechen, könne man auf geographische Herkunft und Ethnie schließen, zukünftig wohl auch auf Gesichtsform oder Haarfarbe. Von da aus dürfte es zur »kriminellen Identität« nicht mehr weit sein. Das beweist die wechselhafte Geschichte von Kriminalanthropologie, Anthropometrie und Fingerabdrucktechnologie.

© Erika Feyerabend, 2002
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Literaturtipps

> Historische Informationen
Simon A. Cole: Suspect Identities. A History of Fingerprinting and Criminal Identification, Cambridge/London 2001

>> Informationen zu Physiognomik, Anthropometrie und Kriminalanthropologie
Martin Stingelin: Der Verbrecher ohnegleichen, in: Wolfram Groddeck/Ulrich Stadler (Hg), Physiognomie und Pathognomie, Berlin/New York 1994, 113-133)