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Ein Fallbeispiel

MRNET-Koordinator André Reis macht gelegentlich auch Öffentlichkeitsarbeit. Laut Pressemitteilung des von ihm geleiteten Humangenetik-Instituts am Uniklinikum Erlangen erklärte Professor Reis am 29. September 2010: »Viele Eltern geistig behinderter Kinder verzichten auf weitere Kinder, weil sie Angst haben, Veränderungen ihrer Erbanlagen seien Schuld an der Behinderung ihres Kindes.« Ziel der Humangenetiker sei es, die »Verunsicherung« Betroffener zu »beenden«. Wie Reis sich das vorstellt, soll »der Fall von Sabine und Herbert R. aus Franken« zeigen, den die Pressemitteilung wie folgt schildert:

»Als ihr Sohn Felix vor fünf Jahren wegen eines Durchfalls im Uni-Klinikum Erlangen behandelt wurde, stellten die Ärzte fest, dass die Entwicklung des Dreijährigen hinter anderen Kindern zurückblieb. […] Aus Angst, wieder ein behindertes Kind zu bekommen, verzichteten Felix Eltern auf weiteren Nachwuchs. Fünf Jahre später entdeckten Forscher des Humangenetischen Instituts bei einer Untersuchung von Felix Erbanlagen einen winzigen Einzel-Gendefekt, der seine Behinderung ausgelöst hatte. ‘Uns wurde gesagt, mein Mann und ich hätten keinen Gendefekt und es sei sehr unwahrscheinlich, dass weitere Kinder an geistiger Behinderung erkranken’, sagte die Mutter. Sechs Wochen später wurde Sabine R. wieder schwanger und hat mittlerweile zwei gesunde Kinder.«




KLAUS-PETER GÖRLITZER, Journalist und redaktionell verantwortlich für BIOSKOP

Stoff für Spekulationen

  • Bundesministerium für Forschung will umstrittenes »Netzwerk Mentale Retardierung« nicht weiter fördern

aus: BIOSKOP Nr. 52, Dezember 2010, Seite 3

4,1 Millionen Euro hat das Wissenschaftler-Netzwerk »Mentale Retardierung« (MRNET) seit April 2008 vom Bundesforschungsministerium (BMBF) erhalten. Die Humangenetiker, die genetische Ursachen geistiger Behinderung finden wollen, müssen sich ab Frühjahr 2011 neue Finanziers suchen: Das BMBF hat angekündigt, die umstrittene Forschung nicht weiter zu fördern – und damit wohl auf wachsenden öffentlichen Druck reagiert.

Anfang Juli hatte die Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Forschungsministerin Annette Schavan (CDU) aufgefordert, »das rechtlich höchst fragwürdige MRNET-Projekt nicht mehr mit deutschen Steuermitteln zu unterstützen«. Im Rahmen einer multizentrischen Studie an sieben deutschen Universitäten hatten Eltern von Kindern mit »psychomotorischer Entwicklungsstörung« zugestimmt, dass ihren Töchtern und Söhnen zwecks genetischer Analyse eine Blut- oder Gewebeprobe entnommen wird und die Probanden außerdem fotografiert werden. Einen gesundheitlichen Nutzen stellt die Einwilligungserklärung den Probanden nicht in Aussicht.

Die Grünen im Bundestag zogen mit einer kritischen Anfrage nach, die gesundheitspolitische Sprecherin Biggi Bender sagte zur Begründung: »Wir gehen davon aus, dass bei dieser Studie an Kindern mit sogenannter geistiger Behinderung fremdnützige Aspekte der Forschung im Vordergrund stehen.«

  • Nichtöffentliche Voten

Im September folgte eine denkwürdige Antwort aus dem BMBF. Das Ministerium gab an, gar nicht selbst geprüft zu haben, ob die MRNET-Studie überhaupt rechtmäßig ist. Statt dessen erklärte Staatssekretär Georg Schütte, dass ein »uneingeschränkt positives Votum« aller zuständigen Ethikkommissionen ebenso vorgelegen habe wie eine positive Bewertung eines »unabhängigen und international besetzten Expertengremiums«. Besagte Voten sind aber öffentlich ebensowenig nachzulesen wie die Namen der vom BMBF konsultierten Fachleute.

Die anhaltende Geheimniskrämerei verunmöglicht es auch, nachzuvollziehen, warum das BMBF im Herbst offenbar seinen Kurs geändert hat und den Antrag des MRNET auf Verlängerung der finanziellen Förderung um zwei weitere Jahre überraschend ablehnen will. Auf journalistische Nachfrage teilt das BMBF, ohne weitere Erläuterung, mit: »Die Gutachter haben sich aus fachlich/wissenschaftlichen Gründen einhellig gegen eine Verlängerung des Projektes ausgesprochen.« Dieser neuen Empfehlung des internationalen Expertengremiums werde das BMBF nun folgen und dem MRNET ab 2011 keine zusätzlichen Fördergelder zukommen lassen.

Nicht-Öffentlichkeitsarbeit dieser Art begünstigt Spekulationen, auch juristische. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, begrüßte die Entscheidung des BMBF »gegen weitere Förderung fremdnütziger Forschung an behinderten Kindern«. Im selben Tenor äußerte sich die Lebenshilfe und betonte, dass fremdnützige Forschung nach deutschem Recht verboten sei.

  • Genetiker forschen weiter

MRNET-Koordinator André Reis erklärt die Entscheidung ganz anders: »Auf Grund der ausgeprägten Mittelknappheit beim BMBF«, so der Humangenetikprofessor aus Erlangen, »erhielt unser Projekt in der wissenschaftlichen Begutachtung nicht die nötige Priorität.« Dies bedeute aber »nicht, dass unsere Forschung schlecht war«; es gebe harten Wettbewerb, ein Drittel aller Projekte, gestartet im Programm der medizinischen Genomforschung, werde vom BMBF nicht weiter gefördert.

»Wir werden nun versuchen«, kündigt Reis an, »die begonnene Forschung, auch im Interesse der Betroffenen und deren Eltern, mit der Hilfe anderer Förderer fortzuführen.« Wer diese sein werden, ist noch offen. Zur Frage, was nach Abschluss der BMBF-Förderung mit den Blut- und Gewebeproben, Fotos und Daten der Probanden geschehen werde, erklärt Professor Reis: »Die Probanden haben jederzeit das Recht, aus der Studie auszutreten.« Bisher sei aber erst ein einziges Elternpaar unter 2.351 teilnehmenden ProbandInnen ausgestiegen. »In diesem Fall wurden, wie in der Studienaufklärung zugesagt, die Proben und die Daten vernichtet«, versichert Reis.

BIOSKOP thematisierte erstmals im Juni 2009 das MRNET. Auch dessen weitere Entwicklung werden wir beobachten.

© Klaus-Peter Görlitzer, 2010
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