BioSkop unterstützen! Kontakt Über uns
Patientenverfügungen

Berichte und Analysen

Geringere Kosten als vermutet

Allgemeine Besorgnis erzeugt die politische Rhetorik vom »demographischen Faktor«, womit pflegebedürftige und kranke Betagte als ökonomischer Belastungsfaktor Nr. 1 hingestellt werden. Dass solche Behauptungen fragwürdig sind, belegen Ergebnisse der Sozialwissenschaftlerin Hilke Brockmann, die Krankenhausdaten von über 430.000 AOK-PatientInnen ausgewertet hat: »Die wachsende Zahl älterer Menschen«, berichtete die Pressestelle der Max-Planck-Gesellschaft im Dezember 2002 über Brockmanns Studie, »muss nicht zwangsläufig zu mehr Kosten im Gesundheitssystem führen.« Denn Brockmanns Krankenhaus-Datenanalyse zeigt, dass SeniorInnen durchschnittlich weniger kostenintensive Therapien wahrnehmen als jüngere Menschen mit gleicher Krankheit.

Die Gründe dafür sind allerdings unklar. Brockmann vermutet: »Geringere Kosten bei älteren Patienten könnten auf Rationierungen hinweisen, die Ausgaben und Erfolg einer medizinischen Behandlung gleich bewerten und nicht ausschließlich eine optimale medizinische Versorgung und Heilung anstreben.« Möglich sei aber auch, dass alte Menschen freiwillig weniger intensive – und damit vergleichsweise billige – Therapien bevorzugen.




ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin

Kalkulierte Unterversorgung

  • Studien belegen, was PolitikerInnen längst bekannt ist: Chronische Mängel in Pflegeheimen und Krankenhäusern

aus: BIOSKOP Nr. 27, September 2004, Seiten 10+11

Viele Menschen fürchten sich davor, ihren Lebensabend im Heim verbringen zu müssen oder im Krankenhaus hilflos ÄrztInnen und »Apparatemedizin« ausgeliefert zu sein. Tatsächlich belegen Studien, dass der Alltag für Pflegebedürftige und Pflegende oft schwer zu ertragen ist. Doch statt Kliniken und Heime mit ausreichend Personal auszustatten, kürzen Politik und Träger stetig Gelder, propagieren »Eigenverantwortung« der Versicherten – und werben für den vorab erklärten Behandlungsverzicht per Patientenverfügung.

Die Pflegeversicherung finanziert einen Gutteil der Versorgung von rund zwei Millionen Bedürftigen. Ab 2005 werden voraussichtlich ambulante und stationäre Pflege gleichgestellt. Das Prinzip des Sozialgesetzbuch XI – ambulant vor stationär – soll dann so ausgelegt werden: Pflegestufe I und II werden in der ambulanten Pflege geringfügig auf monatlich 400 Euro bzw. 1.000 Euro erhöht. Dafür werden die Leistungen der stationären Pflege nach unten nivelliert, von derzeit 1.023 Euro in Stufe I auf 400 Euro, in Stufe II von 1.279 auf 1.000 Euro.

Abhängig von der Pflegestufe kostet ein Heimplatz in einem einfachen Alten- und Pflegeheim zwischen 1.400 und 500 Euro. Die Differenz muss über die Rente, Familienangehörige oder die Sozialhilfe ausgeglichen werden. Die »Wahl«, ob eine Unterbringung im Heim oder im familiären Haushalt besser ist, haben viele schon heute nicht. Rund zwei Millionen Pflegebedürftige sind hierzulande registriert; ein Großteil wird – ohne Unterstützung durch ambulante Dienste – zu Hause versorgt, zu 93% von Frauen.

Das kann für alle Beteiligten lebbar sein. Das kann aber auch zu Mehrfachbelastung von Frauen, zu Überforderung und Gewalt führen. Eine europaweite Befragung von Angehörigen, die Schwerstpflegebedürftige in ambulanter oder stationärer Pflege versorgen, bestätigt, was zu vermuten ist: Innerhalb weniger Jahre sind 90 Prozent der Befragten ausgebrannt, sozial isoliert und stehen vor dem finanziellen Ruin.

Problematisch ist unter diesen Umständen auch die Versorgung im Altenheim. Das Institut für angewandte Pflegeforschung (dip) veröffentlicht regelmäßig eine Erhebung zur Personalsituation in der stationären Altenhilfe. Die Ergebnisse für das Jahr 2003 sind besorgniserregend. Das Pflegepersonal hat mit deutlich mehr altersverwirrten BewohnerInnen zu tun. Die medizinisch-pflegerischen und die psycho-sozialen Anforderungen steigen.

Mittlerweile haben sich im »Druckkessel« Altenheim mehr als neun Millionen Überstunden angehäuft.

Gleichzeitig ist die Altenpflege damit konfrontiert, dass PatientInnen heute schneller aus Krankenhäusern entlassen werden, auch dann, wenn sie noch nicht vollständig genesen sind. Diese Praxis liegt vor allem am neuen Abrechnungsmodus mit diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRG), laut dem viele Kliniken ihre Leistungen inzwischen abrechnen. Ausnahmen von der Regel gibt es, beispielsweise sind gerontopsychiatrische PatientInnen von dieser ökonomischen Taxierung nicht betroffen. Doch wenn »normal« Betagte nicht entsprechend der statistischen Normwerte gesunden, steigen die Anforderungen an Familie, Pflegedienst und Heim. Die Einrichtungen der Altenpflege sind darauf wenig vorbereitet. Die gesetzlich vorgeschriebene Fachkraftquote von 50 Prozent wird oft unterschritten.

Mittlerweile haben sich im »Druckkessel« Altenheim mehr als neun Millionen Überstunden angehäuft. Immer mehr Menschen verbringen ihren Lebensabend in Heimen, die immer zahlreicher werden und mit weniger Personal qualitativ bessere Pflege organisieren sollen. Rund 9.000 Altenheime versorgen 600.000 Betagte. Allein in diesem Jahr müssten 20.000 Pflegefachkräfte eingestellt werden, um die neuen und offenen Stellen zu besetzen und die Überstunden abzubauen, konstatiert das Institut für Pflegeforschung. Aber das Gegenteil ist der Fall: Im ersten Halbjahr 2003 sollen 8.700 Vollzeitstellen abgebaut worden sein.

Die chronische Personalknappheit kommt noch zur Pflegeversicherung hinzu, die ohnehin auf die körperliche Grundversorgung reduziert ist und die Zeitknappheit zur alltäglichen Erfahrung gemacht hat. Die Folgen sind gravierend, Pflege im Minutentakt erzeugt Leiden: Wundliegen, Verkrampfungen, Infektionen. Diese Arbeitssituation halten viele nicht mehr aus. Die größte internationale Studie über den frühzeitigen Berufsausstieg von Pflegekräften (NEXT) stellte im Oktober 2003 fest: 40% der Pflegekräfte, besonders die jüngeren und besser qualifizierten, erwägen, ihren Beruf aufzugeben.

Viele demenzkranke HeimbewohnerInnen und ambulant Versorgte werden per Sonde ernährt, weil keine Zeit mehr dafür bleibt, PatientInnen beim Essen zu unterstützen oder zu füttern.

Eine weitere Expertise lässt erahnen, was Pflegenotstand für die Betagten bedeuten kann. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) hat die Ernährungs- und Flüssigkeitsversorgung besonders in stationären Einrichtungen untersucht. Grundlage waren Daten aus Qualitätsprüfungen sowie Pflege- und Behandlungsfehlergutachten im Jahr 2003. Schlussfolgerung des MDK: Jede fünfte PEG-Sonde sei bei HeimbewohnerInnen gar nicht notwendig gewesen. Viele müssen in Folge von Schlaganfall und Demenz mit starken Schluckstörungen kämpfen.

Um wieder normal essen zu können, haben sie nach Heilmittel-Richtlinien Anspruch auf Sprech- und Sprachtherapie. Doch die meisten logopädischen Praxen verfügen nicht über MitarbeiterInnen mit den erforderlichen Qualifikationen. »In der Praxis« ist nach Darstellung des MDK »zu beobachten, dass z.B. bei bewusstseinsgestörten oder dementen Patienten der Entschluss zur Anlage einer PEG durch Erwägung einer Pflegeerleichterung« zugestimmt wird. Im Klartext: Viele demenzkranke HeimbewohnerInnen und ambulant Versorgte werden per Sonde ernährt, weil keine Zeit mehr dafür bleibt, PatientInnen beim Essen zu unterstützen oder zu füttern. Aber auch mit Magensonde sind Schlucktraining und normales Essen möglich. Dies werde aber »eher selten beobachtet«, wenn sich die Grunderkrankung nicht schnell und deutlich verbessere.

Patientenverfügungen werden dazu benutzt werden, den Abbau von Pflegepersonal und Ressourcen zu rechtfertigen.

Auf Sondenernährung angewiesen sind KomapatientInnen. Mehrere tausend Menschen – und ihre Angehörigen – werden alljährlich mit der extremen Lebenssituation des Komas konfrontiert. Nur jede/r vierte Patient kann in eine qualifizierte, stationäre Pflegeeinrichtung (der Phase F) aufgenommen werden. Sogar die Frage, ob die Kosten der Sondenernährung weiterhin übernommen werden sollen, steht regelmäßig auf der gesundheitspolitischen Agenda.

Die Liste chronischer Unterversorgung, die auch in puncto Palliativmedizin herrscht, ließe sich fortsetzen. Die Situation zu verbessern, wäre Aufgabe einer Gesundheitspolitik, der es um das Wohlergehen pflegebedürftiger Menschen geht. Das würde sicher nicht alle Todeswünsche aus der Welt schaffen. Aber es würde den Umgang mit schlechten medizinischen Prognosen und der begrenzten eigenen Existenz lebbarer machen. Das Gegenteil bewirken die – als Ausdruck von »Selbstbestimmung« – beworbenen Patientenverfügungen: Sie werden dazu benutzt werden, den Abbau von Pflegepersonal und Ressourcen politisch zu rechtfertigen.

© Erika Feyerabend, 2004
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Autorin