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_WDR_-TV-Dokumentation

»Ausgeschlachtet« – ein Film von Martina Keller und Wolfgang Luck.

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Die Leichen-Recherche

Acht Monate dauerte die Recherche des Journalisten-Netzwerkes ICIJ zum internationalen Geschäft mit Leichenteilen. Die ReporterInnen führten mehr als 200 Interviews mit Brancheninsidern, Regierungsoffiziellen, Chirurgen, Anwälten oder verurteilten Tätern und werteten Tausende von Dokumenten aus, die teils erst über Hunderte von Anfragen nach Gesetzen zur Informationsfreiheit beschafft werden konnten. Umfangreiche Datenbanken der US-Gesundheitsbehörde FDA wurden analysiert, etwa über Gewebeimporte und Produktrückrufe.

Rund ein Dutzend Reporter aus elf Ländern beteiligten sich an der Recherche, darunter Martina Keller, die bereits 2008 das Buch Ausgeschlachtet. Die menschliche Leiche als Rohstoff veröffentlicht hatte. Die Ergebnisse des Netzwerks wurden in mehr als einem Dutzend Publikationen veröffentlicht: Huffington Post, NBC und NPR (USA), Folha de S. Paulo (Brasilien), Asahi Shimbun (Japan), The Sydney Morning Herald (Australien), El Mundo (Spanien), Le Monde (Frankreich), CIPER (Chile), The Kiev Post (Ukraine), The Daily Mail (Großbritannien), El Puercoespín und La Nación (Argentinien), The Daily (Tschechische Republik).

Weitere Informationen und Artikel kann man auch auf der spannenden Website des ICIJ nachlesen: www.icij.org




MARTINA KELLER, Journalistin

Leichenimporte aus Osteuropa gestoppt

  • Bayerischer Transplantatehersteller gab seine Einfuhrlizenz zurück – amerikanische Mutterfirma hat Ärger in den USA

aus: BIOSKOP Nr. 60, Dezember 2012, Seiten 12+13

Die Tutogen Medical GmbH führt derzeit keine Knochen, Sehnen und Faszien mehr aus der Ukraine ein. Das Unternehmen aus Neunkirchen am Brand habe seine Importlizenz freiwillig zurückgegeben, teilte die Bezirksregierung von Oberbayern auf Anfrage mit. Unterdessen sieht sich Tutogens Mutterfirma RTI Biologics in den USA mit kritischen Fragen konfrontiert.

Schon mehrfach wurde in der Vergangenheit gegen Partner von Tutogen in Osteuropa ermittelt. Mal ging es um Importe aus Lettland, von denen die Angehörigen der Verstorbenen nichts ahnten. Mal klagten ukrainische Angehörige, ihre Zustimmung zur Entnahme von Leichenteilen sei mit Tricks erschlichen worden. Gesetzesverstöße wurden vor Gericht allerdings nicht nachgewiesen, die Skandale schienen ohne Konsequenzen zu bleiben. Noch im Sommer waren mehr als 20 rechtsmedizinische Institute der Ukraine bei der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA für die Entnahme von Leichenteilen registriert. Als Kontakt war stets dieselbe Telefonnummer angegeben: die der Tutogen Medical GmbH.

Damit ist es jetzt vorbei. Weil Tutogen seine Importlizenz im August zurückgegeben hat, konnte eine für September geplante Inspektion der Regierung von Oberbayern nicht mehr in der Ukraine stattfinden. Sie hätte womöglich Unangenehmes zu Tage gefördert. Im Laufe dieses Jahres leitete die ukrainische Sicherheitspolizei SBU gleich gegen drei rechtsmedizinische Institute Ermittlungen wegen des Verdachts illegaler Leichenteilentnahme ein. Die Pressefrau des SBU spricht in zwei Fällen von »Banden«-Delikten.

Mehr als 30 Körperteile waren bei ihrem Sohn entnommen worden. Die Mutter erfuhr, dass die Überreste ihres Sohns nach Deutschland geliefert werden sollten.

Opfer waren Menschen wie Lubov Frolova aus Nikolaev im Süden der Ukraine. Ihr 35-jähriger Sohn Oleksandr starb im Dezember 2011 nach einem epileptischen Anfall. Man teilte der Mutter mit, eine Autopsie sei nötig. Eine Ärztin fragte zudem, ob ein Sehnenteil am Fuß entnommen werden dürfe, wertvolle Medizin für neugeborene Babys werde daraus gemacht. Frolova willigte ein.

Zwei Monate später, im Februar 2012, machte die ukrainische Sicherheitspolizei eine grausige Entdeckung. Sie stoppte in der Gegend von Nikolaev einen weißen Minibus mit Kühlboxen voller Leichenteile. Auch Überreste von Oleksandr Frolov waren darunter. Auf Behältern klebten Schildchen mit der Aufschrift »Tutogen«. Dazwischen steckten Briefumschläge mit Bargeld und Autopsieberichte in englischer Sprache.

Die Mutter war schockiert, als ihr die Polizei eine Liste der bei Oleksandr entnommenen Teile zeigte: »Zwei Rippen, zwei Achillessehnen, zwei Ellbogen, zwei Gehörknöchelchen … Ich konnte das nicht zu Ende lesen, ich fühlte mich ganz krank«, sagt sie. Nicht eines, sondern mehr als 30 Körperteile waren bei ihrem Sohn entnommen worden. Die Mutter erfuhr, dass die Überreste ihres Sohns nach Deutschland geliefert werden sollten. »Ich finde, diese Menschen sollten bestraft werden«, sagt sie: »Ich habe nichts gegen Spende, aber es muss nach dem Gesetz geschehen.«

  • Kritische Fragen

Ein einziges Mal war es in der Ukraine zuvor zu einem Gerichtsprozess gekommen. In Kriwoi Rog wurde 2009 der Leiter der Rechtsmedizin angeklagt. 17 Zeugen wurden geladen. Doch der Angeklagte starb, bevor ein Urteil gesprochen werden konnte. Caroline Hartill, Vize-Präsidentin bei Tutogens amerikanischer Mutterfirma RTI Biologics, sagte, RTI versuche etwaige Gesetzesverstöße von Einzelpersonen gemeinsam mit den ukrainischen Behörden zu verhindern. Die Gewebeentnahme in der Region Kriwoi Rog sei 2008 eingestellt worden.

RTI muss sich nicht nur wegen der Ereignisse in der Ukraine kritische Fragen gefallen lassen. Die Firma hat auch wieder Ärger wegen eines Skandals in den USA, der längst aus den Schlagzeilen verschwunden schien. Michael Mastromarino, ein ehemaliger Zahnarzt, der seine Lizenz wegen Drogenproblemen verlor, hatte bis 2005 mehr als 1.000 Leichen illegal ausgeschlachtet, darunter krebszerfressene und HIV-infizierte Kadaver.

Mastromarino lieferte diese Überreste mit gefälschten Papieren an mehrere große Verarbeitungsfirmen, darunter RTI. 25.000 Implantate wurden hergestellt. Viele davon waren bereits an Patienten verpflanzt, als die Machenschaften des Leichenhändlers aufflogen und die Firmen ihre Produkte zurückriefen.

RTI ließ die Vergangenheit ihres Geschäftspartners von einer Kanzlei durchleuchten.

2008 wurde Mastromarino zu einer Haftstrafe von bis zu 58 Jahren verurteilt. Stets hatten RTI und die anderen Abnehmer der Leichenteile sich als Opfer von Mastromarino dargestellt. Recherchen des International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) werfen jetzt aber ein neues Licht auf die Rolle von RTI. Die Firma kannte Mastromarino bereits aus der Zeit, da er noch als Zahnarzt Produkte von RTI bei Kiefer-Operationen einpflanzte. Als Mastromarino 2002 ins Leichengeschäft wechselte, schloss eine nicht kommerzielle Tochter von RTI, zuständig für die Spendenbeschaffung, einen Vertrag mit Mastromarino, wie Gerichtsakten eines schwebenden Zivilverfahrens belegen.

Bald gab es Beschwerden über Mastromarino, und RTI ließ die Vergangenheit ihres Geschäftspartners von einer Kanzlei durchleuchten. In einer Entscheidung des Supreme Court des Staates New York wird eine Mail von Anwalt Jerome Hoffman an das RTI-Management vom Dezember 2002 zitiert: »Der gute Doktor hat seit geraumer Zeit auf der Böse-Buben-Liste des Weihnachtsmanns gestanden«, schrieb Hoffman. »Ich würde dringend empfehlen, keine Geschäfte mit jemandem zu machen, der so einen Lebenslauf hat.«

Doch RTI setzte sich über den Rat des Anwalts hinweg. Mastromarino habe ja sein Leben geändert. »Wer war ich, über ihn zu urteilen?«, sagte Caroline Hartill in einer per Video dokumentierten Befragung unter Eid. Sie war seit 2001 bei RTI für Qualitätssicherung zuständig.

  • Reaktion des US-Verteidigungsministeriums

Im Oktober diesen Jahres sollte auf Staten Island ein Zivilprozess gegen RTI Biologics beginnen. Kläger sind Hinterbliebene der von Mastromarino ausgenommenen Toten. Es gehe nicht so sehr darum, was die RTI-Verantwortlichen genau wussten, »sondern was sie hätten wissen müssen«, erklärte ein Anwalt der Familien im Vorfeld. Doch der Prozessbeginn wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Laut einem Bericht von RTI an die US-Börsenaufsicht hat die Firma in 29 Fällen einen Vergleich ausgehandelt und dafür 2,4 Millionen Dollar zurückgestellt.

RTI ließ einen detaillierten Fragenkatalog des ICIJ unbeantwortet. Anstelle eines Interviews gewährte die Firma ein Treffen mit ihren Anwälten, die sich aber nur zu juristischen Aspekten der geplanten ICIJ-Veröffentlichungen äußerten. Unterdessen versichert sie in Verlautbarungen stets, dass sie sich an die Gesetze halte. »Wir blicken auf eine lange Geschichte des verantwortungsvollen Umgangs mit dem Geschenk der Spende zurück.«

Die ICIJ-Publikationen vom Juli 2012 im angesehenen amerikanischen Online-Magazin Huffington Post haben daran offenbar Zweifel geweckt. Das US-Verteidigungsministerium beschloss im September, seine Verträge mit RTI Biologics zu prüfen.

© Martina Keller, 2012
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