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MARTINA KELLER, Journalistin

(K)ein Markt für Leichenteile

  • In Deutschland gelten Gewebetransplantate von Verstorbenen oft als die schlechtere Therapiealternative

aus: BIOSKOP Nr. 47, September 2009, Seiten 12+13

Wenn der Mensch stirbt, muss das noch nicht sein Ende sein. Auf Sektionstischen rechtsmedizinischer Institute entnehmen Ärzte Knochen, Haut oder Sehnen und verarbeiten sie weiter zu Transplantaten. Allerdings sind Gewebetransplantate von Verstorbenen oft nur eine von mehreren Therapiealternativen – und nicht immer die beste Wahl für den Patienten.

Ein Beispiel sind sterilisierte Sehnen aus Körpern von Leichen, wie sie die Tutogen Medical GmbH herstellt. Sie werden nach Kreuzbandrissen verpflanzt. Oliver Dierk ist Mannschaftsarzt des Fußball-Bundesligisten Hamburger SV und Spezialist für Kreuzbandrisse. »In 99 Prozent der Fälle verwende ich Eigengewebe als Ersatz«, sagt er. Jeder Mensch habe mehrere Sehnen, die man nutzen könne. »Körpereigenes Material hat deutliche Vorteile«, sagt Dierk: »Es wird vom Körper nicht abgestoßen und birgt keine Infektionsgefahr.« Kraftmessungen haben zudem gezeigt: Die Muskulatur eines Patienten, der eine körpereigene Sehne verpflanzt bekommen hat, ist nach der Rehabilitation so stark wie zuvor.

Hingegen werden die vermeintlichen Vorteile einer Leichensehne oft durch mittel- oder langfristige Fehlschläge erkauft. Dies belegt eine 2005 veröffentlichte Studie von Ottmar Gorschewsky, Vizepräsident der Deutschen Vereinigung für Orthopädische Sporttraumatologie. Von 265 Patienten mit Kreuzbandriss bekam die eine Hälfte eine körpereigene Sehne verpflanzt, die andere Hälfte eine sterilisierte Leichensehne von Tutogen. Bereits zwei Jahre nach der Operation war bei zwanzig Patienten aus der Gruppe mit Fremdtransplantat die Sehne erneut gerissen, die monatelange Rehabilitation vergebens. Nach sechs Jahren war dies in der Gruppe mit dem Fremdtransplantat bei nahezu der Hälfte der noch erfassten Studienteilnehmer der Fall, hingegen nur bei sechs Prozent aus der anderen Gruppe. Überdies war die Leichensehne weitaus häufiger ausgeleiert als die körpereigene.

»Der Goldstandard ist patienteneigenes Material«

Welche Behandlungsalternative sich durchsetzt, ist mitunter eine Frage des Marktes. In den USA, wo der Medizinkommerz eine größere Rolle spielt als hierzulande, werden jedes Jahr mehr als eine Million Knochenteile verpflanzt. In Deutschland sind es schätzungsweise nur 30.000 Transplantate pro Jahr, großteils werden sie zum Knochenaufbau bei Hüftoperationen und in der Wirbelsäulenchirurgie verwandt. Doch auch bei Knochen gilt: Leichentransplantate sind nicht die erste Wahl bei Operationen. »Der Goldstandard für uns sind immer noch Gewebe, die dem Patienten selbst entnommen wurden«, sagt Klaus-Peter Günther, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie. Nur wenn das patienteneigene Material, etwa aus dem Beckenkamm, nicht ausreiche, böten sich Alternativen an: tierischer Knochen, synthetischer Ersatz wie Hydroxylapatitkeramik – oder eben menschliche Spenderknochen.

Verzichtbar ist Leichenknochen meist in der Implantologie, obwohl diese Sparte der Zahnmedizin ein wichtiger Absatzmarkt für die Branche ist. Wenn eine künstliche Zahnwurzel sicher verankert werden soll, muss häufig erst der Kieferknochen wieder aufgebaut werden. Man kann dazu allerdings Knochenmaterial des Patienten nehmen – es wird aus dem Kieferwinkel, dem Kinn oder dem Oberkiefer gewonnen. Falls die Mengen nicht ausreichen, verwendet der Hamburger Implantologe Christian Bläul eine Mischung aus patienteneigenem Knochen und Ersatz vom Rind. Auch mit synthetischen Stoffen, etwa dem vollständig resorbierbaren Tricalciumphosphat, lassen sich gute Ergebnisse erzielen.

Allerdings wird das Produkt in den USA in zerkleinerter Form auch bei Schönheitsoperationen verwandt, zum Beispiel um Falten aufzufüllen oder Lippen voller erscheinen zu lassen.

Mitunter schafft der Markt erst den Bedarf: So wurde azelluläre, also von Zellen toter Spender befreite Haut ursprünglich für die Therapie von Verbrennungsopfern entwickelt. Der Einsatz hielt sich in Grenzen. Unbestritten nützlich ist azelluläre Haut, wenn es gilt, schwer heilende Wunden zu verschließen. Allerdings wird das Produkt in den USA in zerkleinerter Form auch bei Schönheitsoperationen verwandt, zum Beispiel um Falten aufzufüllen oder Lippen voller erscheinen zu lassen. Ferner wird azelluläre Haut dazu genutzt, komplizierte Brüche in der Bauchwand zu schließen.

Hierzulande setzt man auf ein anderes Verfahren, um die Bauchwand zu verstärken: Kunststoffnetze aus Polypropylen. »Das ist sicher Fremdmaterial, aber diese Kunststoffnetze sind vom Material her schon seit über zwanzig Jahren geprüft«, sagt Waldemar Uhl, Direktor der Klinik für Allgemeine und Viszerale Chirurgie am Josefshospital in Bochum. Die Materialien würden vom Körper gut integriert, es gebe kaum eine Fremdkörperreaktion. Die Verwendung von azellulärer Haut hält Uhl hingegen für problematisch, weil noch kaum Untersuchungen dazu vorliegen. »Wir wissen zum Beispiel nicht, wie der Körper die veränderte Haut in den Körper integriert, welche Fremdkörperreaktion passiert und wie stabil diese Haut die Bauchwand verstärkt.«

»Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum ich diese Fascia lata aus Leichenbeständen ersetzen sollte.«

Ein begehrtes Material in der Chirurgie ist Fascia lata, die Muskelhülle des Oberschenkels. Sie wird zum Beispiel benutzt, um bei einer Nervenlähmung im Gesicht den Mundwinkel nach oben zu ziehen. »Dann wird das unter die Haut verpflanzt, um die Funktion des gelähmten Nervens wenigstens annähernd zu ersetzen«, sagt Hans-Ulrich Steinau, Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie und Schwerbrandverletzte am Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum. Fascia lata werde außerdem verwendet, um nach Tumoroperationen im Kopfbereich die Schädelbasis wieder abzudeckeln, oder eben als Sehnenersatz, wenn nach einer Tumoroperation in der Nähe des Kniegelenks der Strecker des Kniegelenks wieder fixiert werden muss.

Steinau, ehemals Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, bezieht Fascia lata allerdings nicht von Firmen, sondern entnimmt das Gewebe den Patienten selbst. »Das kann man kosmetisch sehr günstig machen«, sagt er. Durch einen kleinen Schnitt von etwa einem Zentimeter seitlich am Oberschenkel lässt sich die Fascia lata freipräparieren und mit einem sogenannten Stripper ein bis zu 35 Zentimeter langes Stück herausholen. Dabei handele es sich um ein Frischtransplantat, mit lebendigen Zellen, die gut einwachsen. Steinau: »Ich sehe überhaupt keinen Grund, warum ich diese Fascia lata aus Leichenbeständen ersetzen sollte.«

© Martina Keller, 2009
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