EDITORIAL Heft Nr. 90 (Dezember 2022)
Nicht nur Opfer
Die Biografie von so manchem Menschen, die oder der nicht ins Schema passte, ist gekennzeichnet davon, ausgegrenzt, kaserniert oder, wie im Faschismus, gar vernichtet zu werden. Siegfried Braun ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür: Er hat sich als Aktivist für bessere Bedingungen und Arbeitsmöglichkeiten schon in den 1920er Jahren eingesetzt. Zeitweise in einem Heim untergebracht, schlussfolgerte Siegfried Braun: „Seit dieser Zeit bin ich prinzipiell dagegen, einen jungen Krüppel in einem Siechenhaus unterzubringen.“
Braun gründete die erste österreichische Krüppel-Arbeitsgemeinschaft, gründete die Zeitschrift „Der Krüppel“, reiste viel, um internationale Kontakte herzustellen. Auch als er später in das Lager Theresienstadt deportiert wurde, blieb er weiter aktiv. Am 23. Oktober 1944 wurde er mit 1.714 weiteren Menschen nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet. Volker Schönwiese und Angela Wegscheider erinnern an ihn, sein Engagement und seine Ermordung (Siehe Seite 2). Siegfried Braun kann als Vorreiter der neuen, an Gleichheits- und Menschenrechten orientierten Behindertenbewegung gesehen werden.
Else Blankenhorn war asyliert in der Psychiatrie. Sie malte und dichtete um 1900 und wurde seither auch ausgestellt; in der Heimatregion ist sie aber bis heute vielen unbekannt, wohl als Psychiatrie-Erfahrene und Frau wenig beachtet. Der Schriftsteller André Breton schlussfolgerte 1948: Dieser „gesunde Menschenverstand“, „um den es übrigens schlecht bestellt ist“, trachtet danach, „mit Gewalt alles beiseite zu schieben und sogar zu vernichten, was seinen Auffassungen im Wege steht.“ Udo Sierck erinnert an die Malerin (Siehe Seite 6).
Es ist beschämend, dass die Werke von Else Blankenhorn nicht nur einer allgemeinen Öffentlichkeit kaum bekannt sind, sondern das mobilitätseingeschränkte Menschen immer noch nicht Zugang zu ihren Werken haben. Ein Protestbrief von Nati Radtke macht deutlich, dass dies auch heute möglich ist und von Menschen mit Behinderung nicht wortlos hingenommen wird (Siehe Seite 7).
Am 1. Januar 2023 tritt das neue Betreuungsrecht in Kraft. Ulrike Lux führte dazu ein Interview mit Anna Stach, Geschäftsführerin des Marburger Vereins für Selbstbestimmung und Betreuung (Siehe Seite 4). Das bisher geltende Betreuungsrecht wird auf dem Papier als kritikwürdig angesehen. Wir werden uns weiter mit diesem Themenbereich beschäftigen und schauen, was Wunsch und Wirklichkeit anbelangt.
Für das Team des newsletters
Erika Feyerabend
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