BioSkop unterstützen! Kontakt Über uns

»Strukturen analysieren, öffentlich machen, verändern«

»Die Arbeitsgruppe Ethik sichtet nicht die vielfältigen Definitionen von Ethik und stellt keinen neuen Ethik-Codex auf. Der Arbeitsgruppe Ethik geht es um die Einforderung der Rechte der Patienten/innen. (…) Die Arbeitsgruppe analysiert die Strukturen von Organisationen, die in ethischen Fragen Einfluss auf Beratung, Behandlung und Beforschung von Patienten nehmen. (…) Wichtige Kriterien der Beurteilung dieser Institutionen sind demokratische Nominierung der Mitglieder von Beiräten oder Kommissionen und Transparenz von Strukturen und Abläufen. Angestrebt ist, dass die Patienten möglichst mehrheitlich in diesen Gremien vertreten sind.«

aus einer Selbstdarstellung der Arbeitsgruppe Ethik im Berliner Forum Patienteninteressen. Sprecher der AG ist Johannes Spatz, Telefon (030) 7875921.



Von JOHANNES SPATZ, Arzt, Sprecher der AG Ethik im Berliner Forum Patienteninteressen


Ablauf eines Arzneimittelversuches

  • Was einer Schwangeren kurz vor der Entbindung im Berliner Virchow-Klinikum zugemutet wurde

aus: BIOSKOP Nr. 9, März 2000, Seite 4

Am 19. Dezember 1999, nachts um zwei Uhr, sucht eine hochschwangere Frau mit starken Wehen und Steisslage des Babies die Geburtsklinik des Berliner Virchow-Universitätsklinikums auf. Am Morgen erhält sie ein wehenhemmendes Mittel, das die Geburt etwas verzögern soll. Dann soll es plötzlich ganz schnell gehen.

Gegen 10 Uhr soll die Frau, innerhalb von 15 Minuten, auf einen Kaiserschnitt vorbereitet werden. Ihre Schwägerin spricht derweil im Vorbereitungsraum des Operationssaales mit dem stellvertretenden Direktor der Klinik für Anästhesiologie (Wissenschaft von der Schmerzbetäubung), der auch als Professor forscht und lehrt. Während sie verschiedene Vordrucke des Klinikums durchsieht, wendet sich der Professor direkt an die Schwangere. Von der Frau, die seit zwei Jahren in der Bundesrepublik lebt und noch nicht fließend Deutsch spricht und versteht, erhält er eine Unterschrift – die Einwilligung für die Anwendung des Medikamentes Rapacuronium im Rahmen des Kaiserschnittes. Worum es dabei geht, weiß sie nicht.

  • Einfach verschwunden

Als die Schwägerin entdeckt, dass die auf die Geburt fixierte Schwangere etwas unterschrieben hat, was sie gar nicht lesen kann, will sie dieses Schreiben sehen. Weil der Arzt ihr die Papiere nicht aushändigen will, sieht sie sich gezwungen, ihm das Papier aus der Hand zu nehmen; anschließend verlässt er den Raum. Bei der Lektüre des »Informationsbriefes« stellt die Schwägerin dann fest, dass es sich hier um einen Versuch mit dem Arzneimittel Rapacuronium handelt; sie will das Papier mit der Unterschrift der Schwangeren zurückerhalten. Dies wird abgelehnt, Begründung: Das Blatt mit der Einwilligungserklärung sei nicht zu finden.

Im kleingedruckten Informationsbrief wird erklärt, dass Rapacuronium bereits in den USA zugelassen und eine Zulassung in Deutschland im Februar 2000 zu erwarten sei. Das Medikament solle bewirken, dass die Muskulatur der Atemwege und der Bauchdecke für einen bestimmten Zeitraum erschlafft.

Der Professor kommt wieder herein. Er bittet die Schwägerin, der Schwangeren zu übersetzen, dass das üblicherweise eingesetzte Medikament Succinylcholin für Frau und Kind tödlich sein könne, während das vorgesehene Rapacuronium weniger Nebenwirkungen aufweise. Doch die Schwägerin beharrt auf Rückgabe des unterschriebenen Papieres. Inzwischen ist die Stimmung emotional sehr angespannt.

  • Völlig verunsichert

Der Mediziner geht erneut, das Papier bleibt verschwunden. Dann erscheint eine andere Narkoseärztin, es ist die Ehefrau des Professors. Zur Patientin, die ständige Wehen hat, sagt die Ärztin, wenn es ihr hier nicht passe, solle sie das Haus doch verlassen. Zudem müsse man davon ausgehen, dass sie nach zwei Jahren Aufenthalt in Deutschland auch Deutsch spreche. Die Schwägerin bricht aus Verzweiflung in Tränen aus.

Dann erscheint der Chefarzt der Geburtshilfe. Er entschuldigt sich für das Verhalten seiner Kollegen. Die werdende Mutter und ihre Schwägerin sind inzwischen völlig verunsichert und bitten darum, in ein anderes Krankenhaus gebracht zu werden. Der Chefarzt der Geburtshilfe sagt den sofortigen Transport in das Auguste-Viktoria-Krankenhaus (AVK) im Stadtteil Schöneberg zu. Eine Krankenschwester bricht mitfühlend in Tränen aus.

Gegen 13 Uhr wird die Gebärende mit Blaulicht ins AVK gefahren. Die Patientin habe das Virchow-Klinikum auf eigenen Wunsch verlassen, heißt es in einem kurzen Begleitschreiben ohne medizinische Befunde. Rund zwei Stunden später erfolgt der Kaiserschnitt – unter Periduralanästhesie (örtliche Betäubung). Eine Vollnarkose, die im Zusammenhang mit dem Medikamentenversuch im Virchow-Klinikum vorgesehen war, hält man im AVK für nicht erforderlich. Es wird ein gesunder Säugling geboren.

© Johannes Spatz, 2000
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Autors

* HINWEIS

Der Bericht beruht auf einem Gespräch, das zwei Mitglieder der Berliner AG Ethik mit der jungen Mutter und ihrer Schwägerin geführt haben. Diese und weitere Informationen hat die AG auch Ärzteschaft und Politik zur Verfügung gestellt.