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UTE BERTRAND, Journalistin und BioSkoplerin

Vermessungsarbeiten in Essen

  • Humangenetiker wollen Zusammenhänge zwischen Gesichtsausprägungen und »Gendefekten« belegen

aus: BIOSKOP Nr. 23, September 2003, Seite 11

HumangenetikerInnen der Universität Essen haben eine Theorie: Sie glauben, sie könnten von bestimmten Gesichtsausprägungen auf Erbanlagen schließen, die Krankheiten verursachen. Die Annahmen sollen nun wissenschaftlich belegt werden – durch eine Studie mit über 600 Freiwilligen.

Die Essener Lokalpresse kündigt die Möglichkeit zu einem kleinen Nebenverdienst an: »15 Euro für ein Foto und ein wenig Blut.« Gezahlt wird der Betrag von der medizinischen Fakultät der Universität – an alle, die sich für die »Gesichter-Studie« des Humangenetischen Instituts zur Verfügung stellen. Der Kreis der TeilnehmerInnen ist beschränkt auf Deutsche im Alter von 18 und 35 Jahren, die keine schwere Grunderkrankungen haben. Wer mitmacht, wird mit einer Digitalkamera fotografiert, von vorn und im Profil. Dann muss er/sie den Kopf drehen, was per Video gefilmt wird. Schließlich wird den ProbandInnen 40 Milliliter Blut entnommen.

Diese Prozeduren sollen nur eine Viertelstunde dauern, danach beginnt für die Genetiker die Hauptarbeit: die Auswertung. Dabei werden die Blutproben molekulargenetisch analysiert, um festzustellen, »welche der in der Allgemeinbevölkerung vorliegenden Gen-Varianten bei einem Probanden vorliegen«. Die Foto- und Filmaufnahmen des Gesichts werden in ein Computerprogramm eingespeist, das Bochumer Neuroinformatiker um Professor Christoph von der Malsburg entwickelt haben. Die Information über das digitalisierte Gesicht wird in rund 2.000 Zahlen verdichtet und in 48 Messpunkte unterteilt. Das Programm vermisst die Abstände zwischen verschiedenen Punkten und wertet auch die Gesichtskonturen aus. Unterstützt von einer Großrechneranlage, vergleichen und verknüpfen die ForscherInnen anschließend die Gen- mit den Gesichtsdaten.

»Im Idealfall können wir in Zukunft vom Gesicht auf genetische Informationen schließen.«

Was soll der ganze Aufwand überhaupt? Studienleiter Stefan Böhringer (29), der sowohl Mathematik, als auch Medizin studiert hat, erläutert seine Vision so: »Im Idealfall können wir in Zukunft vom Phänotyp, in diesem Fall vom Gesicht, auf genetische Informationen schließen und so besser bestimmte syndromale, also durch Gendefekte verursachte Krankheitsbilder erkennen.« Das angeblich medizinische Potenzial ihres Tuns belegen soll wohl auch die folgende Hintergrundinformation der Essener HumangenetikerInnen: »Mittlerweile sind mehr als 40 verschiedene Gene, die für genetische Syndrome mit charakteristischen Gesichtsveränderungen verantwortlich sind, identifiziert und charakterisiert worden.«

660 ProbandInnen wollen die InitiatorInnen bis Ende 2003 zur Teilnahme an der Studie bewegt haben, die Essener Ethikkommission hat weder rechtliche noch moralische Bedenken. Ergebnisse des 50.000 Euro teuren Projekts sollen Ende 2004 vorliegen und in einer Datenbank gespeichert werden. Darauf zugreifen sollen nicht nur ForscherInnen, sondern auch praktizierende KinderärztInnen. »Die Datenbank«, meint Böhringer, »gibt eine sinnvolle Hilfestellung bei der Diagnose von genetischen Abweichungen, sie ersetzt aber keine weiteren Untersuchungen.«

Potenziell interessiert an mathematisch-molekulargenetisch hergestellter Risikoinformation sind alle, die Risiken selektieren und Menschen überwachen wollen.

Verfängt dieses Konzept, könnte die Zukunft irgendwann so aussehen: Sobald dem Kinderarzt ein Mädchen oder Junge mit krankheitsverdächtigen Gesichtszügen vorgestellt wird, schlägt er Alarm und rät den Eltern vorsichtshalber, den Verdacht per molekulargenetischer Diagnostik abklären zu lassen. Ermittelt der Gentest eine Veranlagung für die vermutete Krankheit, werden dem Kind, das eigentlich gesund aussieht, Medikamente zwecks Vorbeugung verordnet – falls es entsprechende Arzneien denn überhaupt gibt.

Sollte der kurze Schluss vom Gesicht auf die Erbanlagen erst einmal wissenschaftlich und politisch akzeptiert sein, würden nicht nur medizinische Szenarien denk- und realisierbar. Potenziell interessiert an mathematisch-molekulargenetisch hergestellter Risikoinformation sind alle, die Risiken selektieren und Menschen überwachen wollen – zum Beispiel Arbeitgeber, Versicherungen und Behörden.

© Ute Bertrand, 2003
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