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ERIKA FEYERABEND, Journalistin und BioSkoplerin

Chronische Kontrolle

  • Neue »Disease-Management-Programme« sollen Behandlung verbessern und PatientInnen erziehen

aus: BIOSKOP Nr. 19, September 2002, Seiten 8-10

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) verheißt einen »Durchbruch zu mehr Qualität in der gesundheitlichen Versorgung chronisch kranker Menschen«. Möglich machen sollen dies so genannte »Disease Management Programme« (DMP), die ÄrztInnen und PatientInnen detaillierte Vorgaben für Behandlung, Medikation und Lebensstil machen. Wer freiwillig teilnimmt, wird permanent überwacht.

Das Gesundheitssystem wird ständig reformiert. Mehr als 50 Gesetze und 7.000 Einzelverordnungen wurden seit Anfang der siebziger Jahre erlassen. Jede Generation von GesundheitsökonomInnen und PolitikerInnen verspricht Besserung. Die Quadratur des Kreises – profit- und wachstumsorientierte Gesundheitsindustrien politisch zu fördern und gleichzeitig sozialstaatliche Versorgungspflichten zu verringern – mochte bisher aber nicht so recht gelingen.

Die gegenwärtigen ReformerInnen haben nun vor allem diejenigen Menschen im Blick, die mit dauerhaften Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Asthma, Brustkrebs oder Herz-Kreislauf-Beschwerden leben; sie gelten als KostentreiberInnen. »20 Prozent der Versicherten«, behauptet Ulla Schmidt, »sind chronisch krank und verursachen 80 Prozent der Kosten.«

Schuld daran seien nicht nur politische Fehlsteuerungen, sondern auch die so genannten »Chroniker« selbst, kritisiert der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem jüngsten Gutachten. Darin kritisieren die Berater des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) neben »Über- Unter- und Fehlversorgungen«, dass viele PatientInnen sich gesundheitsriskant verhalten und die Vorbeugung vernachlässigen würden.

  • Vorgaben für Diabetes und Brustkrebs

Das wird sich nach Meinung von Rot-Grün nun ändern, die Versorgung chronisch Kranker soll besser und wirtschaftlicher werden – und vor allem kontrollierter. Das Zauberwort heißt »Wettbewerb um Qualität«, das Wundermittel sollen so genannte »Disease-Management-Programme« (DMP) sein, die Krankenkassen ihren Versicherten anbieten können. Die rechtlichen Rahmenbedingungen regelt eine Verordnung des BMG, die seit Juli in Kraft ist. Die Vorgaben gelten zunächst für Diabetes Typ 2 und Brustkrebs, ähnliche Programme sollen bald auch für andere »Volkskrankheiten« folgen.

Medizinischer Schwerpunkt der DMP ist es, die TeilnehmerInnen zu »gesundheitsförderndem Verhalten« zu erziehen. Zu diesem Zweck vereinbaren Arzt und Patient gemeinsam Therapieziele und legen Behandlungsverlauf und Medikation fest. Bei Diabetes werden zum Beispiel Zielwerte für Blutdruck und Blutzucker festgelegt werden, die Kontrolle erfolgt durch regelmäßige Untersuchungen. »Erinnerungssysteme« sollen die Beteiligten darauf aufmerksam machen. Außerdem müssen die Krankenkassen Schulungen anbieten, zu deren Teilnahme die PatientInnen verpflichtet sind.

  • Medizin nach Standards und Leitlinien

Entscheidend für die DMP-MacherInnen ist, dass vorgegebene Standards für Wirtschaftlichkeit und »gutes« ärztliches Handeln eingehalten werden: Ob Diagnostik, Therapie, Medikation, Nachsorge oder Verhaltensvorschläge – was im Rahmen von DMP zählt, sind nicht vielfältige Erfahrungen von ÄrztInnen und PatientInnen, sondern die Orientierung an »evidenzbasierten Leitlinien«, die den Stand der medizinischen Wissenschaft spiegeln sollen. Verlauf und Erfolg der DMP werden detailliert dokumentiert und ausgewertet.

Allerdings sind medizinische Standards durchaus umstritten: Die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) findet die Vorgaben für die Brustkrebs-DMP jedenfalls »halbherzig«. Die Gesellschaft befürchtet »eine Unterversorgung von Brustkrebspatientinnen in Deutschland«. Begründung: Das Behandlungsprogramm bleibe hinter international längst etablierten Standards und Anforderungen zurück, sei ungenau und entspreche nicht dem allgemeinen Stand medizinischer Erkenntnis. Dennoch: Der grundsätzliche Ansatz von DMP, Kontrolle und Qualitätssicherung ärztlicher Behandlung zu gewährleisten, klingt erst einmal plausibel, weil er die persönliche Erfahrung vieler PatientInnen trifft.

Die individuelle Lage chronisch Kranker haben die PlanerInnen und PlayerInnen im Gesundheitswesen aber gerade nicht im Blick. Ihr Fokus richtet sich auf das Kollektiv aller Versicherten und kakulierbare Kosten-Nutzen-Prognosen. Krankenkassen arbeiten wettbewerbsorientiert. Private konkurrieren mit gesetzlichen Versicherungen und gesetzliche Kassen konkurrieren untereinander. Von allen umworben werden die »guten Risikoträger«: jung, erwerbstätig, gut verdienend und möglichst gesund. Sie sind es vor allem, die bereit sind, die Kassen zu wechseln.

Die ärgsten Folgen dieser Wettbewerbslogik soll ein so genannter Risikostrukturausgleich (RSA) mildern. In diesen Topf zahlt jede gesetzliche Kasse ein und bekommt, entsprechend der Risikostruktur ihres Versichertenkollektivs, einen Geldbetrag zugewiesen. Berücksichtigt wurden bisher Alter und Geschlecht, Erwerbstätigkeit und Krankengeldansprüche, nicht aber die Krankheiten der Versicherten. Eine 35-Jährige mit Diabetes wurde also beim RSA nicht von einer Gleichaltrigen ohne Beschwerden unterschieden.

  • Widerstand der KassenärztInnen

Dies hat Rot-Grün nun geändert. Durch die Neuregelung des RSA vom November 2001 sollen die Krankenkassen nun finanziell belohnt werden, wenn sie viele chronisch kranke Mitglieder haben. Je mehr Versicherte in die DMPs geraten, je mehr Geld kann aus dem Risikopool in die eigene Kasse zurückfließen. Das bedeutet: Der Wettbewerb um Menschen mit chronischen Krankheiten kann beginnen, denn er lohnt sich – finanziell. Immerhin 13 Milliarden Euro werden hier neu verteilt.

Obwohl viele Krankenkassen schon seit Wochen kräftig die Werbetrommel rühren, läuft noch kein einziges DMP. Das liegt am Widerstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), die sich bisher weigert, DMP-Verträge mit den Kassen abzuschließen. Die KBV lehnt die Verknüpfung zwischen RSA und DMPs ab und warnt vor dem »gläsernen Patienten«.

Die Kritik der Ärztelobby ist berechtigt. Denn die BMG Verordnung ermöglicht, was bisher tabu war: Im Rahmen der DMP würden die Krankenkassen erstmalig Zugang zu persönlichen medizinischen Daten von Versicherten bekommen. Diagnosen, Befunde, Laborwerte, Angaben zu Lebensstil und Therapietreue – all dies dürfen die Kassen im Zuge des Krankheits-Managements erfahren. Dies eröffnet ihnen die Option zur gezielten Selektion von Risikopersonen und zur Einmischung in das Arzt-Patienten-Verhältnis. Wie das konkret aussehen kann, verdeutlicht KBV-Vizechef Leonhard Hansen an Hand von Erlebnissen, die es nach der geltenden Rechtslage eigentlich gar nicht hätte geben dürfen: »Manche Diabetiker«, berichtet Hansen, »kommen ganz verstört in meine Praxis, weil die Krankenkasse bei ihnen zuhause angerufen, nach ihren Zuckerwerten gefragt hat und dann den Therapieplan ändern wollte.« Derartige Eingriffe schließt die BMG-Verordnung zu DMP ausdrücklich nicht mehr aus.

  • Empfehlung von McKinsey

»Disease Management beruht auf Verhaltenskontrolle« von BehandlerInnen und PatientInnen, schreibt ungeschminkt die Unternehmensberatungsfirma McKinsey, die auch Krankenkassen zu Diensten ist. Um die DMP-Daten jederzeit verfügbar zu haben, empfiehlt McKinsey, sie auf so genannten »elektronischen Patientenakten« zu speichern. So weit könnte es tatsächlich bald kommen: Die Einführung elektronischer »Gesundheitskarten« steht im Wahlprogramm von SPD und CDU/CSU, Modellversuche sollen Technik und Akzeptanz abchecken.

Die Teilnahme an den neuen Programmen ist selbstverständlich freiwillig. Doch was ist mit chronisch Kranken, die nicht mitmachen wollen oder die als unprofitabel klassifiziert werden? Was mit jenen, die Schulungen schwänzen, zu wenig rationales Verhalten zeigen? Die seit Juli geltende Verordnung zur RSA-Änderung verpflichtet die TeilnehmerInnen zur aktiven Mitwirkung, un dies muss auch lückenlos dokumentiert und nachgewiesen werden. Wer »ohne plausible Begründung« Schulungsstunden versäumt, kann aus dem DMP ausgeschlossen werden.

  • PatientInnen als »KostentreiberInnen«

Nicht ausgeschlossen ist, dass der – oft uneingelöste – Anspruch, ÄrztInnen sollten ihren PatientInnen Behandlungen nachvollziehbar erklären, in DMP ein Stück weit eingelöst wird. Allerdings begrenzen die standardisierten Programmvorgaben von vornherein die Auswahl therapeutischer Alternativen. Aufsuchen eines Facharztes – nur unter den Bedingungen der Rechtsverordnung. Selbstbestimmtes Verhalten im Alltag – nur mit verbindlichen Erinnerungs- und Rückmeldefunktion für Versicherte und Leistungserbringer sowie dokumentierter Teilnahme an Schulungen. Spätestens nach Durchlauf des Programms wissen PatientInnen, dass sie KostentreiberInnen sind. Und dass sie nur dann Anspruch auf medizinische Versorgung haben, wenn sie den Vorgaben folgen und die geforderte Mitmachbereitschaft beweisen.

  • Wirkung auf alle Versicherten

Wirken sollen und werden DMP aber auch auf diejenigen, die (noch) gesund sind. Durch die DMP-Dauer-Werbung wird allen Versicherten beigebracht, ihr Leben buchhalterisch und nach vorgegebenen Präventionsregeln zu führen – wenn sie nicht riskieren wollen, irgendwann von einer guten medizinischen Versorgung ausgeschlossen zu werden.

Denn die Gewöhnung an Konzepte, die Lenkung von Behandlung und Lebensstil bezwecken, läuft auf vollen Touren. Mitgetragen wird sie auch von einigen Organisationen, die beanspruchen, PatientInnen-Interessen zu repräsentieren, allen voran die Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte. Die BAGH wirbt intensiv für die neuen Programme. »Der Vielfalt der Krankheiten«, meint BAGH-Geschäftsführer Christoph Nachtigäller, »muss eine Vielfalt von DMPs entsprechen. Aus Patientensicht ist zu fordern, dass die DMPs sowohl für Volkskrankheiten als auch für seltene Erkrankungen entwickelt werden. Die Spitzenverbände der Selbsthilfe sollten schon bei der Definition der Inhalte und der Anforderungsprofile beteiligt werden.«

  • Zur Überwachung bereit?

Ob derartige Statements wirklich die Bedürfnisse von DiabetikerInnen und Brustkrebspatientinnen ausdrücken, wird sich nach der Bundestagswahl zeigen, wenn die DMP wahrscheinlich anlaufen werden. Das Kalkül von Krankenkassen und GesundheitsökonomInnen kann nur aufgehen, wenn viele chronisch kranke Menschen bereit sind, sich per DMP chronisch überwachen zu lassen.

Wollen sie das wirklich?

© Erika Feyerabend, 2002
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