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Einstiegsbillet

1994 wurde in Deutschland die maschinenlesbare Krankenversichertenkarte (KVK) eingeführt. Die KVK war nicht nur das Einstiegsbillet für das auf elektronische Datenverarbeitung umgestellte Gesundheitswesen, sie bahnte auch den Weg zu stärkerer Kontrolle von ÄrztInnen und PatientInnen und – damit verbunden – zu Kosteneinsparungen und Rationierungsmaßnahmen. Aufbauend auf der mit der KVK geschaffenen technischen Infrastruktur wäre es auch möglich, Chipkarten einzuführen, auf denen sensible medizinische Daten gespeichert sind. Manche Befürworter solcher »Patientenkarten« träumen gar davon, dereinst ihre gesamte Krankengeschichte in der Brieftasche mit sich herumtragen zu können.

Risiken und (Neben)-Wirkungen von Chipkarten und elektronischer Vernetzung des Gesundheitswesens zeigt detailliert ein bereits 1995 erschienenes Buch auf, das in seiner Analyse nach wie vor aktuell ist: Der Gesundheitschip. Wir meinen: Ein ausführlicher Blick in dieses Buch kann angesichts der laufenden Debatte um die Einführung eines »Medikamentenpasses« wahrlich nicht schaden!

Ute Bertrand, Jan Kuhlmann, Claus Stark: Der Gesundheitschip. Vom Arztgeheimnis zum gläsernen Patienten, Frankfurt/New York 1995 (Campus-Verlag), 177 Seiten.



UTE BERTRAND, Journalistin und BioSkoplerin

Risiken und Nebenwirkungen des geplanten Arzneimittelpasses

  • Merkwürdige Konsequenzen aus dem Lipobay-Skandal

aus: BIOSKOP Nr. 15, September 2001, Seiten 3+4

Der Skandal um das Medikament Lipobay könnte erhebliche elektronische Nebenwirkungen für alle Versicherten nach sich ziehen. Die Bundesgesundheitsministerin will einen maschinenlesbaren Medikamentenpass einführen, die Krankenkassen propagieren das elektronische Rezept. Und auch die Vision von der auf einer Chipkarte gespeicherten Krankengeschichte lebt wieder auf. Als Motor der Entwicklung wirken Finanz- und Kontrollinteressen von Politik, Pharmaindustrie und Krankenkassen. Die informationelle Selbstbestimmung der PatientInnen hingegen gerät noch weiter ins Hintertreffen.

So viel Medienpräsenz wie in diesem August hatte der Chemie- und Pharmakonzern Bayer selten. Anlass war der Skandal um den Cholesterinsenker Lipobay, der im Verdacht steht, schwerwiegende Nebenwirkungen bis hin zu Todesfällen verursacht zu haben. Am 8. August gab Bayer schließlich dem öffentlichen Druck nach und nahm das Präparat vom Markt. Was folgte, waren die Ankündigung von Schadenersatzklagen betroffener PatientInnen sowie öffentliche Vorwürfe, vorgetragen vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), jener Behörde, die hierzulande für die Arzneimittelaufsicht zuständig ist.

  • »Inakzeptables Informationsverhalten«

BMG und BfArM attestierten dem Unternehmen »inakzeptables Informationsverhalten« und kritisierten, Bayer habe dem BfArM fast zwei Monate lang eine »sehr umfangreiche Analyse« über Risiken von Lipobay vorenthalten. Bayer bestritt dies vehement. Einige Wochen später machte die Aufsichtsbehörde einen peinlichen Rückzieher: Am 13. September 2001 kündigte das BfArM an, Bayer müsse nun nicht mehr mit einem Bußgeld rechnen, weil der Konzern die Information, dass Lipobay nicht zusammen mit dem Wirkstoff Gemfibrozil eingenommen werden darf, rechtzeitig der zuständigen Behörde in Großbritannien mitgeteilt habe, die anschließend auch das BfArM informiert habe.

  • Miese Meldemoral

Zur gleichen Zeit häuften sich – wie aus heiterem Himmel – Medienberichte über fragwürdiges Verhalten und fehlenden Sachverstand von ÄrztInnen bei der Verordnung von Medikamenten. Die »Meldemoral« der Mediziner lasse sehr zu wünschen übrig, erfuhr man staunend aus der Zeitung, nur etwa jede zehnte beobachtete Nebenwirkung werde auch, wie vorgeschrieben, an die Aufsichtsbehörde weiter geleitet – kleine Nachlässigkeiten, die für die PatientInnen fatale Folgen haben können.

Auch der BfArM-Präsident, Harald G. Schweim, erläuterte in einem _FAZ_-Interview seine Sicht der Dinge: »Die Arzneimittelsicherheit in Deutschland, in Europa und darüber hinaus ist höher als je zuvor. Wenn man hochwirksame Medikamente haben will für bisher schwer oder nicht behandelbare Krankheiten, wird man leider mit Fällen wie Lipobay leben müssen. Arzneimittel, die hoch wirksam sind und völlig ohne Nebenwirkungen, kann es nicht geben. Abgesehen von Kommunikationsproblemen, die man dem Hersteller anlasten kann, hat Bayer auch Pech gehabt.«

  • Weg des geringsten Widerstands

Mag sein, dass solche Statements angesichts von Todesfällen manchen irritieren. Macht nichts. Für Klarheit, welche Konsequenzen die Politik gedenkt, aus dem Lipobay-Skandal zu ziehen, hatte Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) zu diesem Zeitpunkt längst gesorgt. Schmidts Aktivitäten zielen vor allem auf diejenigen, von denen sie offenbar den geringsten Widerstand erwartet: auf die pflichtversicherten PatientInnen. Jedenfalls kündigte die Ministerin am 23. August 2001 nach einem Gespräch mit Vertretern von Ärzteschaft und Apothekern an, noch vor der Bundestagswahl 2002 solle ein elektronischer Arzneimittelpass für alle Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung verpflichtend eingeführt werden. Auf der Chipkarte sollen Daten über alle Medikamente gespeichert werden, die ein Patient einnimmt. ÄrztInnen und ApothekerInnen sollten die lückenlose Medikation bei jedem Besuch des Kartenträgers einsehen können und auf diese Weise davon abgehalten werden, ihm Präparate zu verschreiben, die unerwünschte Wechselwirkungen zu bereits eingenommenen Arzneimitteln hervorrufen könnten.

  • Zustimmung von der Industrie

Beifall erntete Schmidt sogleich vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI): Ein »erhebliches Einsparpotenzial« bringe die Chipkarte und verhelfe ÄrztInnen und Krankenkassen zu mehr Transparenz, schwärmte BPI-Vorsitzender Bernd Wegener, stellte gleichzeitig aber auch klar, dass Skandale wie um Lipobay mittels Chipkarte leider nicht zu verhindern seien. Nicht erwähnt, aber als guter Pharmamanager sicherlich im Kopf hat Wegener, woran seiner Branche immer gelegen ist und was ein Medikamentenpass begünstigen würde: mehr Einblick in das Verhalten von PatientInnen. Ein Unternehmen, das über Kundenstämme ganzer Apotheken verfügt, etwa weiß, wer wie oft welche Arzneimittel bei welcher Erkrankung erwirbt, verfügt damit über wichtige Daten für gezieltes Produktmarketing.

Ums Geld geht es auch den Krankenkassen: personenbezogene Verordnungsprofile, Online-Prüfungen und Kontrollabgleiche, all dies würde man gern so detailliert und effektiv wie möglich machen. Der Arzneimittelpass erscheint den Kassen dafür aber nicht geeignet, sie propagieren lieber das elektronische Rezept, dessen flächendeckende Einführung – weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit – seit Monaten vorbereitet wird. Vorgesehen ist, dass die Arzneimittelverordnung des Arztes direkt auf einem »Gesundheits«-Server hinterlegt werden soll, auf den ÄrztInnen, ApothekerInnen und Krankenkassen online Zugriff bekommen sollen. Der Patient, so wird stets versichert, bleibe Herr seiner Daten, weil er, ähnlich wie bei einer elektronischen Geldkarte, eine geheime PIN-Nummer erhalte, die er mitteilen oder für sich behalten könne.

Das Bundesgesundheitsministerium hat bereits im Juni dieses Jahres das Konzept für das elektronische Rezept von dem von Krankenkassen, Ärzteschaft und Apothekern getragenen »Aktionsforum Telematik im Gesundheitswesen« gut geheißen. Worum es in dem Papier geht, steht gleich vorneweg: »Insbesondere wirtschaftliche Gründe sprechen für eine Umstellung auf das elektronische Rezept als erste Stufe eines von zukunftssicheren Kommunikationsstandards geprägten Informationsverbundes unseres Gesundheitssystems«.

  • Bedürfnisse von PatientInnen?

Auf die Bedürfnisse der PatientInnen geht das 46-seitige Papier kaum ein, wichtiger ist den AutorInnen, der »Skepsis« von Versicherten, ÄrztInnen und ApothekerInnen frühzeitig zu begegnen, die durch »in die Debatte geworfene Zusatzforderungen« nach den oben skizzierten Kontrollen zu erwarten seien. Und neben dem elektronischen Rezept werden in dem Papier auch schon die nächsten Stufen angekündigt: der elektronische Arztbrief und die elektronische Patientenakte, welche die einrichtungsübergreifende Behandlungsdokumentation »als zukünftiges Kernelement einer sektorübergreifenden Kooperation« ermöglichen soll.

Ob Schmidts Arzneimittelpass oder die von den Krankenkassen bevorzugten Technikoptionen favorisiert werden, bleibt abzuwarten; jetzt gibt es erst einmal eine Arbeitsgruppe im Verbraucherministerium, die prüft, wie die Patientenkarte ausgestattet werden soll. Bei all diesen Projekten werde der Datenschutz technisch gewährleistet, wird bei jeder Gelegenheit versichert.

Die eine Frage ist, wer dies im computerisierten, vernetzten und für die meisten PatientInnen unübersichtlichen Gesundheitswesen sicherstellen und überwachen soll; die Datenschutzbeauftragten jedenfalls werden dies nicht können, die sind schon jetzt hoffnungslos personell unterbesetzt. Die andere Frage hat der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Joachim Jacob, bei seinen ersten Kommentaren zum Arzneimittelpass selbst aufgeworfen. Er erinnerte daran, dass die Dokumentation von Medikamenten-Daten Rückschlüsse auf Krankheiten erlauben könne, was Begehrlichkeiten, etwa bei Arbeitgebern, wecken dürfte. Sie könnten Neueinstellungen davon abhängig machen, ob ein Bewerber seine Karte vorlege oder nicht. Dieselbe Problematik stelle sich auch bei Versicherungsverträgen. Jacob plädiert – wie auch viele PolitikerInnen – dafür, den Pass nur auf freiwilliger Basis einzuführen.

  • Freiwilligkeit auf dem Papier

In der Praxis stünde solche Freiwilligkeit wohl nur auf dem Gesetzespapier, vor allem dann, wenn viele Menschen sich einen solchen Pass zulegen würden. Auch wer keine Chipkarte hat, würde dann seine Daten – ebenso wie der mit Arzneimittelpass ausgestattete Mitbewerber – offenbaren müssen, um überhaupt eine Chance zu haben; diese Zwangslage ist gerade in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit offensichtlich.

Trotzdem haben sich solche Zwänge noch nicht überall herumgesprochen, nicht mal im Sozialbereich. Dem Sozialverband VdK etwa geht der Arzneimittelpass nicht weit genug. Der Verbandsvorsitzende Walter Hirrlinger fordert allen Ernstes, was Mitte der neunziger Jahre von Industrie und diversen Krankenkassen als Vision propagiert, von der Politik aber aus Datenschutzgründen nicht umgesetzt wurde: Einführung einer Patientenchipkarte, auf der nicht nur die verordneten Medikamente, sondern auch umfangreiche Daten über Krankheiten und Behandlung der InhaberInnen gespeichert werden. Die Chipkarte solle helfen, Kosten zu sparen und Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Sollten sich solche Stellungnahmen von Lobbyisten häufen, darf man sich nicht wundern, wenn die PolitikerInnen ihnen heute, in Zeiten zunehmender Entsolidarisierung und Rationierung, gern Folge leisten.

© Ute Bertrand, 2001
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