BioSkop unterstützen! Kontakt Über uns

Erkenntnisinteresse der Registrierer

»Krebsregister sollen in bisher unbekanntem Ausmaß Krebsursachenforschung und gezielte Eingriffe gegen Krebsgefahren etwa in der Umwelt und am Arbeitsplatz ermöglichen. Gerade deshalb fordern auch viele, die sich als ‘fortschrittlich’ verstehen, solche Register in der Hoffnung, bessere wissenschaftliche Argumente zur Durchsetzung umweltpolitischer Forderungen in die Hand zu bekommen.

Krebsregister halten jedoch nicht einmal das, was sie versprechen. Viele Krebsgefahren können auf diese Weise nicht herausgefunden werden. Es besteht die strukturelle Gefahr, dass hier Ursachenzusammenhänge eher verdeckt als aufgedeckt werden. Ziel ist die Kontrolle bestimmter Bevölkerungsgruppen, die überdurchschnittlichen Krebsgefahren ausgesetzt sind, ohne dass die Krebsursachen bekämpft werden.

Das Erkenntnisinteresse der Krebsregistrierer hat sich auch längst von den Krebsauslösern in der Umwelt entfernt und auf die Lebensweisen, die ‘Überlebensweisen’ der Individuen konzentriert.«

aus dem Vorwort des Buches Krebsregister. Erfassung als Politik, herausgegeben von Angela von Elling und Michael Wunder. Die Argumente des 1986 im Hamburger Konkret Literatur Verlag veröffentlichten, 223 starken Werks sind heute noch aktuell.



UTE BERTRAND, Journalistin und BioSkoplerin

Kranke unter Kontrolle

  • Flächendeckende Erfassung von Krebserkrankungen bringt für die Ursachenforschung praktisch nichts

aus: BIOSKOP Nr. 22, Juni 2003, Seiten 8+9

Ob am Arbeitsplatz, auf der Straße oder am Küchentisch – überall sind Menschen Schadstoffen ausgesetzt. Es läge nahe, krank machende Substanzen zu verbieten. Doch die Parteien übergreifende Antwort heißt: Krankheiten erfassen, registrieren, überwachen! Bevölkerungsbezogene Datensammlungen dienen angeblich der Ursachenforschung. Dass dies eine Legende ist, zeigt das Beispiel der Krebsregister.

Ein Sozialminister schwimmt gegen den Strom: Der Stuttgarter Ressortchef Friedhelm Repnik (CDU) kündigte Ende Mai an, Baden-Württemberg werde als erstes Bundesland aus der Erfassung der Krebsneuerkrankungen aussteigen. Zur Begründung beruft sich Repnik auf den Tübinger Medizininformatiker Hans-Konrad Selbmann, der das 1994 eingerichtete Register mit eingerichtet hat: »Wir haben über lange Jahre viel, viel Geld reingesteckt«, bilanziert Professor Selbmann, »aber wir können mit den Daten nichts anfangen.«

Die Ausstiegspläne sorgen für Aufregung im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. »Ein schwerer Schlag für die Krebsursachenforschung«, behauptet der Epidemiologe Nikolaus Becker, der auch den Deutschen Krebsatlas herausgibt. Mit solcher Rhetorik liegt Becker auf Linie des Bundeskrebsregistergesetzes von 1995. Tatsächlich hatten die Pararagraphen »Ursachenforschung« verheißen und die Bundesländer verpflichtet, bevölkerungsbezogene Register aufzubauen; wiederholt wurde an KrebspatientInnen und ÄrztInnen appelliert, sich kooperativ zu zeigen und Daten bereitzustellen.

Wenn die »Neuerkrankung« sichtbar ist und registriert wird, liegen ihre Anfänge schon Jahre oder gar Jahrzehnte zurück.

Die landesweiten Sammlungen mit den anonymisierten KrebspatientInnen-Daten existieren inzwischen, auch gibt es seit 1996 eine Arbeitsgemeinschaft von zwölf epidemiologischen Registern. Detaillierte Erkenntnisse zu Krebsauslösern hat die AG aber noch nicht publiziert. Klickt man ihre Homepage im Internet an, findet man eine einzige Pressemitteilung aus 2001 und erfährt: »Die Hauptursache für Lungenkrebs ist eindeutig das Rauchen.«

Viel Neues zu Ursachen bösartiger Tumoren wird die Register-AG auch in Zukunft nicht melden können; die Methodik, Erkrankungen flächendeckend zu erfassen, leistet eher dem Gegenteil Vorschub. Die meisten Krebsarten haben sehr lange »Latenzzeiten«. Das bedeutet: Wenn die »Neuerkrankung« sichtbar ist und registriert wird, liegen ihre Anfänge schon Jahre oder gar Jahrzehnte zurück. Auch ein neu auftretendes, bisher nicht bekanntes Risiko, etwa ein Krebs erregender Arbeitsstoff, kann in der Datenflut leicht untergehen – besonders dann, wenn nur wenige Erkrankte, zum Beispiel MitarbeiterInnen einer bestimmten Fabrik, mit der gefährlichen Substanz in Berührung gekommen sind. Und je mehr eine Tumorart verbreitet ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sich ein neuer oder wenig verbreiteter »Verursacher« mit Hilfe der Registerdaten identifizieren lässt – »Überdeckungsphänomen« nennen das Fachleute.

  • Messen statt handeln

RegistriererInnen betonen, sie könnten die »Entwicklung des Krebsgeschehens« genau ablesen, also beziffern, wie viele Menschen welcher Alters- und Berufsgruppen wo an welchen Tumoren neu erkranken. Die erfassten Daten könnten auf »Krebsnester« hinweisen, also auf Regionen, in denen bestimmte Krebsarten besonders häufig auftreten. Vorausgesetzt dies klappt, stellt sich anschließend die entscheidende Frage: Wer zieht wann welche Konsequenzen, wenn die Zahlen auffällig erscheinen?

Beispiel Rheinland-Pfalz: In der Stadt Pirmasens starben, ausweislich der jüngsten Statistik, im Jahr 2000 exakt 48,8 Frauen an Brustkrebs, viermal so viele wie im benachbarten Zweibrücken. Die Leiterin des Krebsregisters, Irene Schmidtmann, sieht keinen Anlass zur Beunruhigung: »Die Brustkrebsmortalität bei Frauen im gleichen Raum«, sagte sie der Regionalzeitung Rheinpfalz, »ist zwar zehn Prozent höher als erwartet, dafür gab es aber 20 Prozent weniger Darmkrebs-Sterbefälle als erwartet.«

Pirmasens ist bekannt für seine Schuhindustrie. Dass diese gesundheitsschädliche Stoffe einsetzt, weiß auch die oberste Krebsregistriererin: »Natürlich können Lösungsmittel, wie sie in der Schuhindustrie verwendet werden, Krebserkrankungen verursachen. Allerdings gibt es meiner Erkenntnis nach darüber keine offizielle Studie.« Solche Kontrollstudien sind bisher Mangelware. Außerdem zeigt die Erfahrung, dass Hoffnungen auf politische Konsequenzen häufig enttäuscht werden, statt dessen folgt ein ExpertInnenstreit, Ende offen.

Den WissenschaftlerInnen winken neue Aufträge, das Atomkraftwerk läuft weiter.

Typisch sind diverse Studien zum Strahlenrisiko von Atomkraftwerken, die allerdings nicht von KrebsregistriererInnen angeregt, sondern von besorgten AnwohnerInnen hartnäckig eingefordert wurden. Mal bescheinigte ein Gutachter, dass Kinder, die in der Nähe eines AKW leben, überdurchschnittlich häufig an Leukämie erkranken würden, mal kam ein anderer zum gegenteiligen Ergebnis. Einig waren sich die Kontrahenten aber darüber, dass weitere Einzelfallforschungen notwendig seien, um Verdachtsmomente zu erhärten oder zu entkräften. Den WissenschaftlerInnen winken neue Aufträge, das AKW läuft weiter.

Fragwürdig sind auch Studien, mit denen die Bundesanstalt für Arbeitsmedizin vor Jahren die Notwendigkeit flächendeckender Datensammlungen begründet hat. Durch den Abgleich von Expositions- mit Krebsregisterdaten könne genauer als bisher abgeschätzt werden, wie hoch das Tumor-Risiko für Beschäftigte sei, auf die Dioxine, Furane, Schwermetalle und Dieselmotor-Emissionen einwirken. Will man so Krebsursachen beseitigen? Geht es nicht eher darum, den Streit um Giftmengen, die noch »zumutbar« sein sollen, zu verwissenschaftlichen? Sollen womöglich diejenigen herausgefiltert werden, die für bestimmte Schadstoffe weniger anfällig sind?

Eine harmlose Dosis für Stoffe, die krebserzeugend sind, gibt es nicht. Wer wirklich vorbeugend handeln will, muss riskante Substanzen aus dem Verkehr ziehen – zumal sich die Wirkungen verschiedener Krebserreger summieren und vervielfachen können.

»Assoziationen zwischen Ernährungs- und Lebensstilfaktoren und genetischer Prädisposition im Auftreten von Brustkrebs bei jungen Frauen«

Das politische Präventionskonzept, das hinter den meisten Krebsforschungsprojekten steckt, hat allerdings nicht Lebensverhältnisse, sondern Verhalten und Veranlagungen von Menschen im Blick. Daten des baden-württembergischen Krebsregisters fließen zum Beispiel in eine europäische Studie mit dem Titel: »Assoziationen zwischen Ernährungs- und Lebensstilfaktoren und genetischer Prädisposition im Auftreten von Brustkrebs bei jungen Frauen«. Deutscher Kooperationspartner ist das DKFZ, das auch eine Abteilung für »Genetische Epidemiologie« unterhält. Deren Aufgabe ist es, statistische Zusammenhänge zwischen genetischen Dispositionen und Krebsarten zu ermitteln.

Außerdem benötigen die DKFZ-EpidemiologInnen die Krebsregisterdaten für Studien, die plausibel machen sollen, warum politisch geplante Früherkennungsprogramme notwendig sind. Die Wirksamkeit und Qualität von Screenings halten EpidemiologInnen dann für statistisch erwiesen, wenn Sterblichkeitsraten in Modellregionen, in denen systematisch Vorsorgeprogramme durchgezogen werden, niedriger sind als andernorts. Ein solcher Ursache-Wirkung-Schluss ist aber zumindest fragwürdig, weil er andere krebsrelevante Einflüsse schlicht ausblendet. Das erste bevölkerungsbezogene Programm dieser Art steht längst in den Startlöchern: Bis 2005 soll hierzulande ein flächendeckendes Mammographie-Screening etabliert werden, zum Mitmachen animiert werden alle Frauen zwischen dem 51. und vollendeten 70. Lebensjahr.

  • Risiken für »Risikogruppen«

Die DKFZ-Projekte passen zur aktuellen Gesundheitspolitik, die »Eigenverantwortung« fordert und schon Anfang der neunziger Jahre eingeleitet wurde. 1994, während der Bundestagsdebatte um das Krebsregistergesetz, behauptete der SPD-Gesundheitsexperte Horst Schmidbauer. »Anders als vielfach vermutet, bewirken Umwelteinflüsse nur zwei bis fünf Prozent aller Krebserkrankungen. Das Gros der Krebserkrankungen wird durch eigene Verhaltensmuster beeinflusst.«

Heute, fast zehn Jahre später, können Krebsregisterdaten und darauf aufbauende Studien benutzt werden, um »Risikogruppen« zu definieren und sogar zu bestrafen, wenn sie staatlichen Vorgaben nicht folgen, sich zum Beispiel weigern, an politisch verordneten Vorsorgeprogrammen und Reihenuntersuchungen teilzunehmen. Auch Screenings, die genetische Dispositionen für bestimmten Krebsarten ermitteln sollen, werden schon erwogen. Konsequenzen, die aus der Zuordnung zu einer bestimmten Risikogruppe folgen, wird jede/r einzelne zu spüren bekommen – auch wenn seine/ihre Daten anonymisiert worden sind. Welche Forschungen betrieben und finanziert werden, können die DatenspenderInnen ebensowenig bestimmen wie die Interpretation und Verwertung der Ergebnisse.

© Ute Bertrand, 2003
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der Autorin