BioSkop unterstützen! Kontakt Über uns

Die elektronische Gesundheitskarte (eGK) wird seit Herbst 2011 schrittweise eingeführt – mit großem Aufwand und unter Zwang. Dagegen mobilisiert u.a. das Komitee für Grundrechte und Demokratie, vor kurzem erschien das von ihm herausgegebene Buch Digitalisierte Patienten – Verkaufte Krankheiten, darunter Beiträge des langjährigen Datenschützers Wolfgang Linder und des _BIOSKOP_-Redakteurs Klaus-Peter Görlitzer.


Lesenswert

Zwei informative Broschüren zur elektronischen Gesundheitskarte (eGK) hat das Forum InformatikerInnen für Frieden und Gesellschaftliche Verantwortung (FIFF) herausgegeben.

Bereits im Dezember 2005 erschien die Publikation Alles auf eine Karte?

2010 publizierte das FIFF dann die Broschüre Die neue elektronische Gesundheitskarte – The same procedure as every year?



Im BIOSKOP-Interview: WOLFGANG LINDER, Datenschützer

»Es muss korrekt informiert werden«

  • Hintergründe und Abgründe der geplanten »Gesundheits«-Chipkarte

aus: BIOSKOP Nr. 34, Juni 2006, Seiten 4+5

Das weltweit größte Verdatungsprojekt soll in Deutschland realisiert werden: die elektronische »Gesundheitskarte«. Angestrebt wird, medizinische Daten möglichst aller Krankenversicherten zu speichern und für gesundheitspolitische Planungen und Eingriffe zugänglich zu machen. Hinter- und Abgründe des Projekts erläutert der Datenschützer Wolfgang Linder auf Fragen von Erika Feyerabend. Linder war von 1988 bis 2004 Referent für Gesundheits- und Sozialdatenschutz beim bremischen Datenschutzbeauftragten.

BIOSKOP: Die Gesundheitschipkarte soll 2007 die Krankenversichertenkarte (KVK) ablösen. Verändert dies den Umgang mit Patientendaten?

WOLFGANG LINDER: Das Problem liegt weniger in der Karte als solcher. Sie behält die Ausweisfunktion der KVK, wird um ein Foto des Inhabers ergänzt und soll EU-weit den Zugang zu Gesundheitsleistungen ermöglichen. Zusätzlich werden die ärztlichen Verschreibungen elektronisch gespeichert. Apotheker bekommen das Rezept nicht mehr auf Papier, sondern können es über die Chipkarte einlesen. All dies ist eher unbedenklich. Geplant ist aber folgendes: Die Arzneimitteldokumentationen und Krankengeschichten sollen nicht etwa beim behandelnden Arzt oder Krankenhaus verbleiben. Vielmehr wird eine immense technische Infrastruktur aufgebaut, die weder gesetzlich vorgeschrieben noch für den Einzelnen transparent ist. Die Einführung der Gesundheitskarte wird zum Anlass genommen, medizinische Daten von gesetzlich Versicherten zusätzlich auf zentralen Servern zu speichern.

BIOSKOP: Wer soll auf diese sensiblen Informationen zugreifen können?

WOLFGANG LINDER: Nach geltender Gesetzeslage dürfen nur Angehörige von Heilberufen Zugriff auf die zentral gespeicherten Gesundheitsdaten erhalten. Krankenkassen, Forschungsinstituten und der Werbeindustrie ist das – jedenfalls auf personenbezogene Daten – verboten. Allerdings könnte es in den nächsten Jahren Versuche geben, diesen Schutz aufzuheben und die personenbezogenen Daten weit zugänglicher zu machen als bisher gesetzlich vorgesehen.

BIOSKOP: Im Gesundheitswesen geht es meist darum, Kosten zu senken. Auch bei der Karte?

WOLFGANG LINDER: Begründet wird ihre Einführung mit Kosteneinsparungen ohne Einschränkung der Behandlungsqualität sowie verbesserter Kommunikation zwischen Patient und Heilberufler. Daran könnten alle interessiert sein, natürlich auch die Kranken. Gegen die Weiterentwicklung der Karte selbst und gegen das elektronische Rezept lässt sich wohl wenig einwenden. Beides ließe sich aber auch ohne zentrale Speicherung medizinischer Daten erreichen.

»Die Kassen erhoffen sich auf Dauer Einsparungen, auch wenn sie zunächst investieren müssen. Die Heilberufler als Berufsgruppe haben eigentlich keine wirtschaftlichen Interessen daran.«

BIOSKOP: Gibt es weitere wirtschaftliche Motive?

WOLFGANG LINDER: Die Dimensionierung des Kartenprojekts lässt begründet vermuten, dass die Hauptinteressen in der Industriepolitik der Bundesregierung und in den Interessen der beteiligten Informatikunternehmen liegen. Alle Großen sind hier vertreten: Siemens, T-Systems, SAP, IBM etc. Die Konzerne wollen mit Hilfe hoher Subventionen risikofrei die Technologie entwickeln, auf Kosten der Beitragszahler an die deutsche gesetzliche Krankenversicherung verkaufen und dann weltweit exportieren. Die Kassen erhoffen sich auf Dauer Einsparungen, auch wenn sie zunächst investieren müssen. Die Heilberufler als Berufsgruppe haben eigentlich keine wirtschaftlichen Interessen daran.

BIOSKOP: Welche Daten werden denn in absehbarer Zukunft verpflichtend gespeichert?

WOLFGANG LINDER: Während der bereits angelaufenen Testphase in ausgewählten Regionen geben Krankenkassen die neuen Karten aus, die Versicherte beim Arztbesuch und Einlösen eines Rezepts nutzen können. Kassen, Apotheken, Ärzte und Patienten können teilnehmen, müssen es aber nicht. Ab 2007 soll die Gesundheitskarte obligatorisch und flächendeckend eingeführt werden. Dann sollen Verschreibungen nur noch elektronisch eingelöst werden dürfen.

BIOSKOP: Und was ist mit den medizinischen Daten der Versicherten?

WOLFGANG LINDER: Später sollen Notfalldokumentation sowie Arzneimitteldokumentation, Arztbrief und Patientenakte integriert werden. Nur die Notfalldaten sollen auf der Karte selbst, die anderen Daten sollen auf zentralen Servern gespeichert werden. Versicherte sollen mittels ihrer Karte den Zugriff auf die zentral gespeicherten Daten eröffnen, zusätzlich werden die Heilberufler eigene Karten benötigen. All diese Funktionen sollen – so die Gesetzeslage – der freien Entscheidung der Patienten unterliegen. Sie sollen bestimmen, ob sie die einzelnen Anwendungen wollen oder nicht, welche Daten gespeichert werden und wer auf welche Daten zugreifen kann. Es ist allerdings umstritten, ob all dies praktikabel, wie es technisch durchführbar und wie teuer es ist. Das Projekt in seiner ganzen Dimension ist auf die zentrale Erfassung ausgerichtet. Nur deshalb muss diese aufwändige Infrastruktur aufgebaut werden.

»Vorstellbar ist auch eine Kontrolle von Lebensstil und Gesundheitsverhalten der Versicherten.«

BIOSKOP: Welche Überwachungen drohen, sollte das Vorhaben einmal in Gänze umgesetzt sein?

WOLFGANG LINDER: Es gibt bereits jetzt eine reine Abrechnungskontrolle und eine Wirtschaftlichkeitskontrolle. Zunehmend wird auch die Qualität medizinischer Leistungen durch die Krankenkassen überprüft. Hier wird es schon kritisch. Vorstellbar ist auch eine Kontrolle von Lebensstil und Gesundheitsverhalten der Versicherten. Im Rahmen der »Disease-Management-Programme« für chronisch Kranke, also für besonders kostenintensive Versicherte wie z.B. Herz-, Kreislauf- und Diabetespatienten, geht es bereits in diese Richtung. Hier werden schon jetzt Krankengeschichten auf zentralen Servern außerhalb der Kliniken und Arztpraxen erfasst und zu Kontrollzwecken durch die Kassen ausgewertet. Die Gesundheitskarte soll am Anfang der zentralen Erfassung der Krankheitsgeschichten aller Versicherten stehen. Nach derzeitiger Rechtslage bleibt es den Versicherten vorbehalten zu entscheiden, in welchem Umfang Daten gespeichert werden. Bislang sollen nur Heilberufler patientenbezogene Daten zu Behandlungszwecken einsehen können. Alle Anderen dürften allenfalls auf pseudonymisierte Daten zugreifen.

BIOSKOP: Auch pseudonymisierte Daten können ausgewertet werden und Risikoprofile schaffen, auf die sich Versicherungen berufen.

WOLFGANG LINDER: Das trifft zu. Aus dem Datenbestand können Schlussfolgerungen gezogen werden, die sich für Versicherte negativ auswirken. Zudem kann das Pseudonym wieder aufgehoben werden, so dass die Daten personenbezogen ausgewertet werden können. Die Frage ist, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen dies geschehen darf. In jedem Fall werden derzeit die technischen Voraussetzungen für Auswertungen aller Art durch vielfältige Interessenten vorbereitet, ohne dass dies öffentlich in Frage gestellt wird. Dann bedarf es nur noch der Freigabe durch den Gesetzgeber. Wie oft hat dieser in der Sozialversicherung neue Datenaustausche und -auswertungen erlaubt! So könnte nach der nächsten oder übernächsten »Gesundheitsreform« zwecks Kostensenkung die Überprüfung des Lebensstils der Versicherten bis hin zur Sanktionierung als ungesund bezeichneter Verhaltensweisen realisiert werden. Schon jetzt wird die Standardisierung ärztlicher Behandlungen voran getrieben.

»Zudem stellt sich die Frage, ob sich der ganze Aufwand für Kassen und Ärzte lohnt, wenn viele Patienten sich verweigern.«

BIOSKOP: Die Datensammelei soll freiwillig erfolgen. Wird das überhaupt praktikabel sein?

WOLFGANG LINDER: Beim Arzt erscheinen Patienten ja weniger als freie Bürger, sondern als Leidende, die Hilfe suchen. Sie haben dann drängendere Probleme als die Frage, ob und wie sie die ihnen gesetzlich eingeräumte »Freiheitssphäre« nutzen wollen. Die bisherige Informationspraxis lässt Schlimmes befürchten: Gesundheitspolitik und Krankenkassen thematisieren öffentlich nur die Karte selbst einschließlich des elektronischen Rezepts, nicht aber die zentrale Datenerfassung. Zudem stellt sich die Frage, ob sich der ganze Aufwand für Kassen und Ärzte lohnt, wenn viele Patienten sich verweigern. Denn: Was soll eine Patientenakte, die unvollständig ist? Und was sollen Auswertungen von Datenbeständen, in denen viele Versicherte gar nicht erfasst sind?

BIOSKOP: Das heißt also: Entweder das System funktioniert, weil alle freiwillig gehorchen. Oder die vollständige Datenabgabe wird zur Norm.

WOLFGANG LINDER: Ja. Es ist aber auch möglich, dass das Projekt in seinem Gesamtumfang nicht realisiert wird, weil es sich als zu teuer erweist, weil technische Hindernisse auftauchen oder weil sich die beteiligten Interessengruppen nicht einigen.

BIOSKOP: Gibt es noch Einflussmöglichkeiten?

WOLFGANG LINDER: Einzelne Gruppen wie Patientenstellen, Bürgerrechtsinitiativen, Verbraucher- und Datenschützer machen sich darüber Gedanken. Notwendig ist jedenfalls, dem einseitigen Informations- und Akzeptanzmanagement von Politik und Betreibern eine kritische öffentliche Diskussion gegenüberzustellen. Über die Dimensionen dieses weltgrößten Erfassungsprojekts muss korrekt und vollständig informiert werden.

© Wolfgang Linder / Erika Feyerabend, 2006
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Autorin und Interviewpartner